Die Maquiladoras in der Cuidad Juárez in Mexiko – Arbeits- und Sexualmarkt junger Migrantinnen

Die schwierige Lage von Migrantinnen in der Stadt Juárez an der nördlichen Grenze Mexikos ist geprägt von sexualisierter Gewalt. An diesem Ort sind Frauen Gewalt in einem Maße ausgesetzt wie in keiner anderen Stadt Mexikos. Dennoch, die extreme Situation der jungen Frauen in Juárez ist exemplarisch und kann als Beispiel für viele andere Städte in Mexiko gelten. Die Cuidad Juárez ist von Wüste umgeben und über den Rio Grande durch drei Brücken mit der texanischen Stadt El Paso verbunden. Die Grenze zu den USA wird durch hochmoderne technisch aufgerüstete Grenzeanlagen und Zäune geschützt. In dieser nördlichen Stadt Mexikos werden seit über 10 Jahren junge Frauen straffrei ermordet.

Im Vergleich mit Baja California im Westen und Nuevo León im Osten ist Juárez und der Staat Chihuahua unterentwickelt und benachteiligt. Der amerikanische Konsul John Dye sagte im Jahre 1921 über diese Stadt: “Juárez is the most immoral, degenerate, and utterly wicked place I have ever seen or heard in my travels.” (Martínez 1996: 151) Martinez charakterisiert Juárez bereits aus historischer Sicht als eine „border boom town”. (Martínez 1996: 152) Über zwanzig Jahre später ist die Stadt, abgesehen von den sozialen und wirtschaftlichen Problemen, die sie mit vielen mexikanischen Städten teilt, erneut eine „border boom town”. Dies ist ein Resultat des immensen Wachstums der Maquiladora-Industrie in den 80ern und 90ern. Der Zustand der Gesellschaft in Juárez hat sich durch die Migration verändert und ist durch den Bevölkerungsfluss in einer stetigen Auflösung begriffen.

Migration in Juárez

Seit den 1940er Jahren gehört die nördliche Region Mexikos zu den bedeutendsten Zuwanderungsgebieten interner Migranten. Juárez ist ein wichtiges Ziel für Migranten aus dem Bundesstaat Chihuahua geworden. Wenn man die Zielgebiete der Arbeitsmigranten betrachtet, hat die Bedeutung der Region Texas stark zugenommen. Es ist festzuhalten, dass Juárez eine in großem Masse eine durch die Migration gewachsene Stadt ist. Außerdem hat die Ciudad Juárez innerhalb der mexikanischen Maquiladora-Industrie eine gewisse Sonderposition inne, da sich dort die größten Maquiladoras mit den bekanntesten Namen befinden.

„There is additional migration as a result of NAFTA“ (Parnreiter, 1999: http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/HSK14lp.html), wurde prophezeit. Die Entwurzelungswelle führte zu einer verstärkten Zunahme der Wanderungen. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre stieg die Binnenmigrationsrate wie nie zuvor an (1980-1990: 17,4%; 1990-1995:19,4%). Somit gab es als 700000 neue Binnenmigranten pro Jahr. Diese Zahlen machen deutlich, dass die Anzahl der Binnenwanderer sich um ein Viertel erhöht hat. Weiterhin stieg die Emigration in die USA an. Doppelt so viele mexikanische Arbeitskräfte wanderten in die USA ein. Peter Smith fasste die wissenschaftlichen Positionen bezüglich der Auswirkungen der NAFTA folgendermaßen zusammen. Es zeigen sich vier Grundthesen (vgl. Alscher 2001: 53):

1. Reduzierung der Auswanderung: Das durch den Freihandel induzierte wirtschaftliche Wachstum in Mexiko erhöht die Chancen zur Teilnahme auf dem formellen Arbeitsmarkt, steigert das Lohnniveau und senkt somit die Motivation zur Auswanderung in die USA.

2. Erhöhung der Auswanderung: Die Restrukturierung der mexikanischen Ökonomie hat v.a. im Fall der arbeitsintensiven Produktion in kleinen und mittleren Unternehmen negative Auswirkungen. Arbeitskräfte werden freigesetzt, fehlende Alternativen auf dem Arbeitsmarkt steigern die Motivation zur Auswanderung.

3. Kein sichtbarer Effekt: Während in einigen Sektoren Arbeitskräfte freigesetzt werden, so entstehen in anderen wiederum neue Arbeitsplätze. Dies führt zu einer Balance auf dem Arbeitsmarkt. Die Auswanderung setzt sich zu den bisherigen Mustern entweder fort oder erhöht sich leicht aufgrund demographischer Faktoren.

4. Differenzierte Effekte: Die Freisetzung von Arbeitskräften in sensiblen Sektoren oder aber die Erhöhung der individuellen Möglichkeiten zur Auswanderung durch Akkumulation ökonomischer Ressourcen führt zu einer Erhöhung der Auswanderung in kurz- und mittelfristiger Perspektive; in längerfristiger Perspektive sinkt sie jedoch.

Sowohl innerhalb Mexikos als auch bei der äußeren Migration sind es zumeist die stark urbanisierte Regionen, die den größten Teil der Migranten aufnehmen. Die interne Migration nach Ciudad Juárez steht in einer Wechselbeziehung mit der internationalen Migration in die USA. Viele der Migranten sehen Juárez nur als einen Transitraum und entschließen sich dann, meist auf illegalem Weg, in die USA auszuwandern.

[quote] Dennoch „… die Behauptung, die rural-urbane Migration dominiere in Lateinamerika, muss grundsätzlich diskutiert werden. Sollte es sich zeigen, dass weitere relevante Bevölkerungsbewegungen existieren, so hätte dies weitreichende theoretische und empirische Konsequenzen.“ (Klagsbrunn 1996; Witte: 83) [/quote]

Diese Annahme bestätigt bei der Betrachtung der Migrationsbewegungen in Mexiko im Allgemeinen und Juárez im Spezifischen. Denn, mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Städten hat wiederum eine Abwanderung in ländliche Gebiete stattgefunden, obwohl die Abwanderung in die Städte die wichtigste Form der Migration bleibt. (vgl. Klagsbrunn 1996; Witte: 83)

Gründe für die Migration in Mexiko

Damit aus Frauen Migrantinnen werden, bedarf es mehrerer Faktoren. Allein die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen und höhere Löhne genügen nicht, um Frauen zur Migration zu veranlassen. Sassen spricht von „objective and ideological linkages“ (ebd.), die notwendig sind, um Sender- und Empfängerregion, jobsuchende Emigranten und Unternehmer zu verbinden. Solche „Brücken“ können ökonomischer Natur sein (z.B. Handelsbeziehungen oder Direktinvestitionen). Sie können durch militärische und/oder politische Präsenz entstehen. Sie können historische Wurzeln haben, oder durch allgemeine „Verwestlichung“ durch Kultur, Konsum und Ideologien begründet werden. (ebd.)

Ein zentraler Faktor für die Migration in die USA ist das unterschiedliche Pro-Kopf-Einkommen der beiden Länder. Die NAFTA wurde als eine Lösung gesehen, potenzielle Migranten von einer Auswanderung abzuhalten. Die ökonomische Entwicklung der Grenzregion, die Schaffung von Arbeitsplätzen sollten vor allem auch Anreiz und Motivation sein, in Mexiko zu bleiben. Nach der neoklassischen Ökonomie basiert das Phänomen der Migration darauf, Einkommen zu maximieren und die Lohndifferenz auszugleichen (vgl. Alscher 2001: 73). Die neue Ökonomie der Migration besagt jedoch, dass die Lohnaussichten als Grund für eine Abwanderung in der Regel nicht ausreichend seien, sondern vielmehr das soziale Gefüge, in dem sich der zu entscheidende Migrant befindet. Eine Entsendung eines Familienmitglieds in ein Land mit höherem Pro/Kopf Einkommen würde zum Beispiel eine sichere Basis für die zurückgebliebene Familie schaffen.

Bei den Frauen in Juárez handelt es sich ebenfalls meist um temporäre Migratinnen. Ihre Übersiedlung ist in der Regel nicht mit festen Absichten verbunden ein Leben in Juárez zu beginnen. Zum Teil sind sie bereits im Kindesalter an die nördliche Grenze gekommen.

[quote] „When a woman from Mexico […] decides to emigrate in order to make money as a domestic servant she is designing her own international debt politics. She is trying to cope with the loss of earning power and the rise in the cost of living at home by cleaning bathrooms in the country of the bankers.” (http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/HSK14lp.html) [/quote]

Die Frau als Arbeiterin in den Maquiladoras

Seit jeher werden vor allem Migranten in den Maquiladoras beschäftigt (Klagsbrunn 1986: 339). Das Leben eines Migranten ist von einer hohen Mobilität geprägt, soziale Netze existieren meist nur sehr lose. Maquiladora-Betriebe versuchen die Probleme, wie hohe Rotationsrate zu umgehen, indem sie eine Mindestwohndauer bei einer Einstellung voraussetzten. Es ist dennoch eine hohe Rotation in den Fabriken zu beobachten. Gründe hierfür sind: Oft unzureichender Lohn und gesundheitsschädigende und schlechte Arbeitsbedingungen, Instabilität des Lebens in der Stadt, fehlende Kindergärten für die Betreuung von Kindern, Rückkehr ins Landesinnere oder Arbeit in den USA. Trotzdem stellen Maquiladoras für viele Mexikaner und Mexikanerinnen einen Anziehungspunkt dar. Sie werden mit einer Verbesserung ihrer Lebensumstände assoziiert, da der Verdienst in den Fabriken oft dennoch höher liegt als der Verdienst in der regulären Arbeitsbranche. Dass vergleichsweise viele Frauen in den Maquiladoras arbeiteten, macht die folgende Tabelle deutlich.

Female and male operatives in the maquilas, 1975-1988

YEAR

TOTAL
OPERATIVES

OF WHICH

PERCENT
FEMALE
OPERATIVES

MALE

FEMALE

1975

57,850

2,575

45,275

78,3

1978

78,570

18,205

60,365

76,8

1981

110,684

24,993

85,691

77,4

1984

165,505

48,215

117,290

70,9

1987

248,625

84,525

164,100

66,0

Quelle: INEGI (1988: Tabelle 2) (vgl. Sklair 1993: 30)

 

Die Zahlen vom Jahr 1975 bis 1988 sind jedoch heute nur begrenzt aussagekräftig, da aufgrund der zunehmenden Schwierigkeiten in die USA zu emigrieren wieder mehr Männer in den Maquilas arbeiten. Der Wandel zu einer höheren Beschäftigung von Männern geht ferner auf eine Veränderung der Produktionsschwerpunkte zurück. Die Zahl der beschäftigten Frauen verringerte sich somit kontinuierlich und beträgt 1999 nur noch 55%.

Meist stellt die Anstellung in den Maquiladoras für viele Frauen die erste bezahlte Tätigkeit dar. Eine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleibt ihnen oft nicht, obwohl Frauen in den Fabriken meist jünger und gebildeter sind als solche, die nicht in den Maquilas arbeiten. Vor allem in den frühen Jahren der Maquilas werden bewusst vorrangig Frauen eingestellt, jedoch auch schon vor dem Entstehen der Maquiladora-Industrie zählten Frauen zu den hauptsächlichen Beschäftigten in mexikanischen Fabriken. Die Gründe hierfür skizziert Sklair, die sich insbesondere mit der Situation der Frauen in den Weltmarktfabriken auseinandersetzt. Sie stellt weibliche und männliche Beschäftigte folgendermaßen gegenüber:

[quote]„Woman's docility is contrasted with man's aggression, the undemanding woman with the demanding man, the nimble-fingered woman with the clumsy (but strong) man, the nonunion and woman with the union man, and the woman who does not stand up for her rights with the militant man“. (Sklair 1993: 172) [/quote]

Die den Frauen zugeschriebenen Eigenschaften verändern ihre Qualität, wenn man sie mit denen der Männer vergleicht. Frauen stellen eine ideale Arbeitskraft dar, da sie stereotypenbeladen als geduldig, anpassungsfähig und geschickt gelten. Die Maquila-Industrie beschäftigen jedoch Frauen nicht aufgrund ihrer Sanftmütigkeit oder Geschicklichkeit, sondern weil sie sich am ehesten anpassen und dem geforderten Bild des „idealen“ Arbeiters entsprechen, das die Industrie fordert. Trotz der hohen Beschäftigungszahl von Frauen gelten die Tätigkeiten, die von Frauen ausgeführt werden als weniger wertvoll als die von männlichen Beschäftigten ausgeführten Tätigkeiten. Dies ist wiederum auf die Rolle der Frau in der mexikanischen Gesellschaft zurückzuführen, worauf ich später noch eingehen möchte. Das folgende Kapitel, in dem ich die Situation der Frauen in der mexikanischen Gesellschaft behandle, macht deutlich, inwiefern die Migration der Frauen an die nördliche Grenze Mexikos als eine mutige Entscheidung angesehen werden kann. Zumeist mit eigenen Kindern, ohne begleitenden Ehemann, begeben sie sich auf eine ungewisse Reise, an deren Ende meist zwar Arbeitsmöglichkeiten warten; dafür aber andere kaum lösbare Probleme entstehen, denen die Frauen mit Ohnmacht gegenüberstehen und welche somit oft zu Depression und Hoffnungslosigkeit führen.

Geschlechtsspezifische Probleme und Diskriminierung

In den Maquilas Mexikos treten geschlechtsspezifische Probleme, wie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und andere Formen der Diskriminierung auf. Beispielsweise müssen sich Frauen vor einer Einstellung in den Fabriken einem Schwangerschaftstest unterziehen. Dieser wird regelmäßig wiederholt. Trotz der täglichen Diskriminierung findet bezüglich der Lohnzahlungen keine Benachteiligung der Frauen statt. Dieses Prinzip gilt jedoch nur für die Maquiladora-Industrie an sich und ist nicht beispielhaft für die gesamte mexikanische Industrie und Wirtschaft. Die Tätigkeit der Frauen in den Fabriken stellt einen entscheidenden Beitrag zum Lohnerwerb der Familien dar und sichert einen wesentlichen Teil der familiären Existenz. Aufgrund der niedrigen Löhne können viele Frauen ihre Kinder und Angehörigen oft nicht ausreichend versorgen und müssen andere oder weitere Verdienstmöglichkeiten finden. Nicht selten werden daher junge Mexikanerinnen zu Prostituierten. Werden sie bei dieser Tätigkeit schwanger, werden sie sofort entlassen. Genauso wie die Männer besitzen die Frauen keinen Kündigungsschutz.

Die Tätigkeit in den Maquilas geht mit Verletzungen sozialer und ökologischer Mindeststandards einher. In der Regel sind die Frauen nach wenigen Jahren aufgrund gesundheitsschädlicher Arbeitsbedingungen und überlanger Arbeitszeiten nicht mehr in vollem Maße leistungsfähig und werden durch aus ländlichen Regionen strömenden Migrantinnen ersetzt (Lenz 1980: 30). Wichterich spricht von einem „pull-and-push-Kreislauf“, in dem die Industrie die ländlichen Frauen zunächst entwurzelt und attrahiert wird, um sie nach einer beschränkten Zeit wieder abzustoßen (Wichterich 1984: 31).

Frauenkörper und das Bild der Frau in der mexikanischen Gesellschaft

Octavio Paz schrieb 1959 in seinem Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit“:

[quote] „Die mexikanische Frau ist […]  ein Symbol, das für die Stabilität und die Fortdauer der Rasse steht. Zu ihren kosmischen kommt ihre soziale Bedeutung hinzu: Im Alltag besteht ihre Funktion darin, Ruhe und Ordnung herzustellen, sowie Mitleid und Sanftheit beizutragen.“ (Paz 1959: 34) [/quote]

Weiterhin sagt er, dass für die Mexikaner die Frau ein „dunkles, geheimes und passives Wesen“ sei.

[quote] „Die Frau verkörpert den Lebenswillen, der seinem Wesen nach unpersönlich ist. Von daher ist es für sie unmöglich, ein eigenes Leben zu leben. Sie selbst zu sein, ihr Begehren, ihre Leidenschaft und ihre Launen auszuleben, bedeutet für sie, dass sie sich untreu wird. […] Sie ist die undifferenzierte Kundgebung des Lebens, der Kanal kosmischer Begierde. In diesem Sinn hat sie kein eigenes Begehren.“ (Paz 1959: 33)[/quote]

Insbesondere das zweite Zitat macht deutlich, inwiefern der Frau die Vernunft abgesprochen wird, über ihr Leben zu bestimmen. Sie wird überhöht und gleichzeitig entpersonalisiert (vgl. Paz 1959: 37) und jeglicher Aktivität beraubt. Bestimmte emotionale Fähigkeiten werden ihr zu-, eigenes Begehren jedoch abgesprochen. Paz definiert sie als ein entferntes, unerreichbares Wesen und lässt sie dadurch unmenschlich erscheinen. Gleichzeitig ist sie aufgrund ihrer anatomischen Beschaffenheit, an der allein sie Schuld trägt, körperlichen Gefahren ausgeliefert. Damit spricht Paz das Ausgeliefert-Sein der Frau dem Mann gegenüber an.

[quote] „Weder ihre eigene Bescheidenheit noch soziale Wachsamkeit machen die Frau unverwundbar. Durch ihre schicksalhaft ‚offene Anatomie’ und ihre soziale Funktion […] ist sie allein erdenklichen Gefahren ausgesetzt, gegen die weder Schutz noch eigene Moral etwas vermögen. Das Übel wurzelt in ihr selbst, in ihrem von Natur aus „geschlitzten“, offenen Wesen“. (Paz 1959: 34) [/quote]

Octavio Paz beschreibt dabei die Gefahr, die vom Mann ausgeht. Sexualität zwischen Frau und Mann wird auf Vergewaltigung reduziert. Dies bedeutet, dass die vom Mann ausgeübte Gewalt nicht nur rechtmäßig ist, sondern „eine unvermeidliche Beziehungsform zwischen den Geschlechtern“. (Paz 1959: 38)

[quote] „In der Tat wird jede Frau, auch diejenige, die sich aus freien Stücken hingibt, vom Mann zerfetzt.“ (Paz 1959: 72) [/quote]

„Das Labyrinth der Einsamkeit“ wurde in der Geschichte erfolgreich rezipiert. Das Essay Paz’s kann demnach als Sittengemälde jener Zeit aufgefasst werden, da es die Sichtweise des Mannes veranschaulicht. Die Gewalt gegen Frauen wird somit legitimiert. Dieser Ausschluss der Frauen ist „bis heute in großen Teilen der mexikanischen Gesellschaft konsensfähig“. (Lang 2001: 38) [/quote]

Seit den 1960er Jahren werden Frauen jedoch teilweise ebenfalls stärker in Entwicklungsprozesse einbezogen. Die Gleichstellung von Frau und Mann wurde im Gesetz verankert und ein Gesetz verabschiedet, welches Gewalt in intimen Beziehungen regeln soll. Trotz der Errungenschaften, für die Feministinnen seit den 1970ern hart gekämpft haben, befinden sich Frauen in Mexiko noch immer in einem Zustand der sozialen Ausgrenzung. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass sich selbst eine Annäherung zwischen beiden Geschlechtern noch nicht vollzogen hat.

Femizid−Sexualisierte Gewalt

„Was Juárez braucht, ist eine kulturelle Revolution“ sagt Esther Chávez, Gründerin des Casa Amiga, einer NGO, die sich für Frauen Mädchen einsetzt, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind.

Mit Beginn der 70er Jahren hat sich eine gender-spezifische Migrationsforschung entwickelt. Dabei steht im Vordergrund, dass Frauen ihr Herkunftsland aus Gründen, wie Diskriminierung, zumeist einer geschlechtsspezifischen, verlassen. Da die weibliche Migration oft mit einer Feminisierung der Arbeitswelt beginnt, hat die Migration meist emanzipatorische Auswirkungen. Gleichzeitig kann dies mit einer Diskriminierung und Verschlechterung der Lebensverhältnisse einhergehen. Frauen, die vom armen Süden nach Juárez kommen, bieten sich eine Vielzahl von Arbeitsmöglichkeiten in den über 300 Maquiladoras. Sie ergreifen diese Tätigkeit meist als Notlösung, in der Regel wenn eine Flucht über den Rio Bravo in die USA misslungen ist. Oft allein und ohne familiären Rückhalt in dieser Stadt sind sie wie nie zuvor sexueller Gewalt ausgeliefert.

Wie gezeigt, sind der Großteil der in den Maquilas Beschäftigten Frauen. In den Fabriken erwartet sie neben einer geringen Vergütung und der Verletzung sozialer und ökologischer Mindeststandards, auch die häufige sexualisierte Gewalt, die sexuelle Belästigung und Erpressung nach dem „lie-down-or-lay-off-Prinzip“ („Hinlegen oder Entlassen-Werden“). Dies ist in den Weltmarkt-Fabriken seit ihrem Bestehen ein Teil der Beschäftigungs- und Machtstruktur, deren Abbau nur sehr langsam gelingt (vgl. www.kpoe.at/progdisk/forum/59.html).

Mit der Einstellung in den Fabrikhallen entwickeln die Frauen sich oft zum Hauptverdiener der Familie und gewinnen rein wirtschaftlich eine höhere Position in der mexikanischen Gesellschaft. In einer von „Macho-Gehabe“ geprägten Welt fühlen sich viele arbeitslose Männer hierdurch herabgesetzt. Die prekäre Lage vieler Familien und Aussichtslosigkeit führt dabei zudem aufgrund nicht gelernter Konfliktbewältigungsstrategien oft zu einer Zunahme an häuslicher Gewalt durch die Männer. Das kleine System Familie wird zerstört. Frauen in Juárez sind somit nicht nur der Gewalt in den Maquilas ausgesetzt, sondern treffen auch in ihrem Haus auf Gewalt in Form von Vergewaltigung und Schlägen.

Ein weiteres Problem in Juárez und anderen Grenzstädten betrifft transnationale Kleinhändlerinnen. An der Grenze zur USA müssen sie sich oft „filzen lassen“. Die Halblegalität oder Illegalität ihrer Aktivitäten werden hier oft sexuell ausgebeutet. Und auch eine weitere schlimme Form der Ausbeutung von Frauen ist auf der US-amerikanischen Seite anzutreffen – der Handel mit Frauen. Die durch illegale Einwanderung herrührende Recht- und Schutzlosigkeit der Frauen wird oft gewaltförmig und erbarmungslos ausgenutzt. Bei den Opfern von Frauenhandel wie auch bei Sexarbeiterinnen und Migrantinnen erhöhen die Vereinzelung und Isolation das Risiko gewalttätiger sexueller Übergriffe. Aufgrund der Beobachtungen schlussfolgert Witerich, dass herkömmliche Geschlechterordnungen umgestülpt werden und eine „Durchdringung von Arbeits- und Sexualmarkt innerhalb dieser Wirtschaftsordnung“ erfolgt (Witerich 2000: www.kpoe.at/progdisk/forum/59.html).

In Juárez hat die Gewalt unfassbare Ausmaße angenommen. Insbesondere seit einer Serie von Frauenmorden hat die Gewalt auch internationale Aufmerksamkeit erhalten. Seit Etablierung der Fabrikhallen in der Freihandelszone wurden in der mexikanischen Wüste mehr als 370 ermordete junge Frauen aufgefunden, mindestens 500 Frauen gelten als vermisst. Die Morde geschehen größtenteils auf dem Weg zur Arbeit oder nachts nach dem Arbeitsende. Die Verkehrsverbindungen von Juárez zu den Fabriken geben den Frauen nur ungenügend Sicherheit.

[quote] „Die Stadt hält einen traurigen Rekord: Innerhalb der letzten 10 Jahre wurden mehr als 370 junge Frauen, meist unter 20 Jahre alt, verschleppt und ermordet. Die Regierung und die örtlichen Behörden verschleiern bisweilen die Aufklärung und versuchen die Angelegenheit kleinzureden. Ein Anwalt, der eine Familie einer Ermordeten vertrat, wurde auf offener Straße von der Polizei hingerichtet. … Es soll eine Verfilmung über diese Morde in Planung sein. Jennifer Lopez wird die Hauptrolle übernehmen und eine Reporterin spielen, die vor Ort recherchiert.“ (Version 11:11, 2. Apr 2006: http://de.wikipedia.org/wiki/Ciudad_Juarez) [/quote]

[quote]The victims of these crimes have preponderantly been young women, between 15 and 25 years of age. Many were students, and most were maquiladora (foreign owned factories). A number were relative newcomers to Ciudad Juarez who had migrated from other areas of Mexico. The victims were generally reported missing by their families, with their bodies found days or months later abandoned in vacant lots or outlying areas. In most of these cases there were signs of sexual violence, abuse, torture or in some cases mutilation. (IACHR, 7. März 2003: http://www.cidh.org/annualrep/2002eng/chap.vi.juarez.htm) [/quote]

In der mexikanischen Gesellschaft und Wirtschaft ist die Frau rechtlich und organisatorisch ungeschützt. Diese Ungeschütztheit impliziert immer sexistische Gewalt. Die Frau ist somit als „ökonomische Akteurin niemals von ihrer Körperlichkeit getrennt.“ (Witerich 2000: www.kpoe.at/progdisk/forum/59.html). Unter Bezug auf diese Feststellung können auch die sexuellen Serienmorde an jungen, armen Arbeiterinnen in Ciudad Juárez interpretiert werden. Obwohl die Täter nicht festgestellt worden sind, können die Morde als ein exemplarisches Beispiel für die Rache von „abgestiegenen“ Männern an (den unabhängig gewordenen) Frauen interpretiert werden. Die ursprüngliche Motivation könnte auf einfache Erklärungsmuster zurückzuführen sein, die Frauen zum Beispiel die Schuld an der Lage der arbeitslosen Männern geben. Denn, „die Frauen nehmen den Männern die Arbeit weg und untergraben ihre Identität“. In der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur wird die Aufklärung über die Morde und sexuellen Straftaten in Juárez nicht effektiv betrieben und wird gar von Polizisten behindert (vgl. IACHR, 7. März 2003: http://www.cidh.org/annualrep/2002eng/chap.vi.juarez.htm). Mangelndes Interesse und möglicherweise unzureichendes Unrechtsbewusstsein sind nur ein Teil der Gründe, warum diese Morde nun schon über ein Jahrzehnt andauern.

Fazit

Das Entstehen der Maquila-Industrie brachte eine veränderte Rollenverteilung in der mexikanischen Gesellschaft mit sich in der der Mann nicht mehr alleiniger „Ernährer“ der Familie ist. Insgesamt muss jedoch festgestellt werden, dass die Beschäftigung im industriellen Sektor den sozialen Status der Migrantin nicht verbesserte. Bei der Tätigkeit in den Maquiladoras handelt es sich meist um eine unqualifizierte, schlecht bezahlte, ausbeuterische und teilweise gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeit. Diese wird aufgrund der Arbeitsbedingungen oft nur in einer Übergangsphase ausgeübt. Wie die zitierten Studien und Quellen zur Maquiladora-Industrie jedoch ebenfalls offenbaren, ist die Frau als Akteurin in den mexikanischen Weltmarktfabriken nicht mehr wegzudenken. Die Analyse zeigt, dass Frauen aufgrund ihrer Tätigkeit zu einem festen Bestandteil der mexikanischen Industriebeschäftigten geworden sind. Trotzdem werden mexikanischen Frauen häufig weder auf beruflicher noch privater Ebene ausreichende Anerkennung gewährt. Im Gegenteil, sie müssen sich oft sexuellen und gewalttätigen Angriffen erwehren. Insbesondere in Juárez und in den anderen Grenzstädten im Norden Mexikos hat diese Gewalt unerträgliche Ausmaße angenommen. Die zahlreichen Morde an jungen Frauen sind ein Beispiel hierfür, können jedoch ferner als ein allgemeiner Hinweis auf die prekäre soziale Lage großer Bevölkerungsteile interpretiert werden. Die Analyse lässt darauf schließen, dass es sich bei den Ursachen der Gewalt um systemimmanente Ursachen, insbesondere bei der sexualisierten Gewalt, handelt. Diese ständige körperliche Bedrohung ist Bestandteil des weiblichen Alltags. Die Frau als Migrantin, ohne festen Wohnsitz und soziales Gefüge, ist dabei weitaus anfälliger für sexistische Übergriffe als Frauen, die über ein stabiles, soziales Netz verfügen. Dennoch Frauen, Männer und Kinder – die ganzen Familien sind von den schwierigen Lebensbedingungen in den Städten und auf dem Lande betroffen. Neben der Veränderung der Denkweisen der hierarchisch-patriarchalisch geprägten Männer mit „Macho-Gehabe“ bieten nur die Verbesserung der Lebensbedingungen und zusätzliche Bildungsangebote die Möglichkeit die Situation der Menschen in Juárez und ganz Mexiko dauerhaft zu verbessern.

 

 

 

Referenzen

 

Alscher, Stefan (2001): Märkte, Migration, Maquiladoras: Auswirkungen des Freihandels auf Migrationsprozesse aus regionaler Perspektive (Tijuana/San Diego),Berlin.

Fischer, Karin; Novy, Andreas; Parnreiter, Cristof (Hg.) (Abruf 30. März 2006): Globalisierung und Peripherie. Umstrukturierung in Lateinamerika, Afrika und Asien. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel, Wien: Südwind 1999 (Historische Sozialkunde 14). URL: http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/HSK14.html

Klagsbrunn, Viktor (Hg.) (1986): Lehrforschungsprojekt Mexiko: Veränderungen der Sozialstruktur und Migration in Mexiko, Berlin

Lang, Miriam (2001): Gewalt und Geschlecht in Mexiko: Strategien zur Bekämpfung von Gewalt im Modernisierungsprozeß, Berlin.

Martínez, Oscar (1996): U.S.-Mexico Borderlands: Historical and Contemporary Perspectives, Washington.

Organization of American States's Inter-American Commission on Human Rights (7 März 2003): The situation of the rights of women in Cuidad Juárez, Mexico: The right to be free from violence and discrimination. URL: http://www.cidh.org/annualrep/2002eng/chap.vi.juarez.htm.

Parnreiter, Christof (Hrsg.) (1999) HSK 14: Globalisierung und Peripherie. Umstrukturierung in Lateinamerika, Afrika und Asien. Migration: Symbol, Folge und Triebkraft von globaler Integration. Erfahrungen aus Zentralamerika Frankfurt am Main: Brandes und Apsel, Wien: Südwind (Historische Sozialkunde 14)., Andreas Novy, Karin Fischer. S. 129 – 149. URL: http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/HSK14lp.html.

Sklair, Leslie (1993): Assembling for Development: The maquila industry in Mexico and the United States, San Diego.

Wikipedia (Version 11:11, 2. Apr 2006): URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Ciudad_Juarez.

Witerich, Christa (1984): Frauen in der dritten Welt: Zum Stand der Diskussion um Integration von Frauen in die Entwicklung, Bonn.

Witerich, Christa (1998): Die globalisierte Frau, Hamburg.

Witerich, Christa (21./22.Januar 2000): Gender matters. Zur Vergeschlechtlichung von Arbeit auf globalisierten Märkten. Aus: Werkstattgespräch, Berlin 21./22.Januar 2000, Karl Dietz Verlag Berlin (gekürzt). Verantwortlich für das Zitat: Heidi Ambrosch. URL: www.kpoe.at/progdisk/forum/59.html.