Die Russen kommen (Teil 1)

 

Nationalismus ist nicht das Erwachen des Selbstbewußtseins von Nationen:

Er erfindet Nationen, wo sie nicht existieren.“

Du hast gekocht als würden die Russen kommen!“

 

Du hast gekocht als würden die Russen kommen!

 

Russen, was für Russen? Wo kommen die her? Wieviele? Was wollen die hier? Und wie lange wollen die hier übernachten? Was für Russen?

Jan, mein Freund …

Was für Russen, Kommode?

Armee.

Was, zum Übernachten? Du hast einen Haufen Russen eingeladen. Wo sollen die denn schlafen?

Jan, die Russen stehen vor Berlin.

Haha witzig, wie die Türken vor Wien, ja!

Nein, nicht wie Türken. Türken mit Pferden und kamen über Balkan. Russen haben Panzer und kommen durch Polen.

Polen, Polen, Kommode? Mit dem Zug oder mit dem Bus aus Polen, und wieviele, verdammt nochmal?!

Ich weiß nicht. Noch nicht. Vielleicht zehn Divisionen von Armee, kann man nicht sagen. Eine ganze Front von Armee, vielleicht mehr. Hier, du kannst sehen.

Kommode drehte einen seiner drei Bildschirme in meine Richtung. Darauf war ein grünlich blaues Satellitenbild zu sehen, auf dem sich vage die Umrisse der Ostsee abzeichneten. Mit der Maus zoomte er tiefer, biß man einzelne Felder und Straßen erkennen konnte. Auf einigen waren kleine Kästchen zu sehen, wie viereckige Ameisen.

Siehst du, Armeefront, viele Panzer. Das ist Bild von heute nachmittag, viertel nach drei.

Woher hast du das denn?

Alter Sattelit von NASA aus Siebziger Jahren. Alt, ohne Benzin. Kann nur fliegen über Europa; wie sagt man in Deutsch? Ist fest über der Erde.

Geostationär?

Ja. Und es gibt auch Bilder von Wettersatellit. Auch sehr alt. Ich habe gutes Login von der Universität von Budapest. Hier kannst du sehen Bilder von später, sechs Uhr dreißig.

Er zoomte wieder ein Stück zurück, bewegte die Karte etwas nach links, und zoomte wieder rein. Dann ließ er die Bilder von vorher und nachher hin und her springen. Die Kästchen hüpften von rechts nach links. Kommode drückte Menübefehle. Eine gezackte rote Linie erschien im Bild links.

Das ist Grenze von Deutschland und Polen. Und hier mit diese Platscharis, die Flecken, kannst du sehen die Bewegung?

Ja, und? Die Russen machen ein Herbstmanöver, oder vielleicht die Polen. Oder das sind gar keine Panzer, sondern Schwertransporter, Laster. Vielleicht reparieren sie auch ein paar Straßen auf einmal und das sind Baumaschinen. So viele Panzer gibt es doch gar nicht. Schon gar nicht in Polen.

Sehr richtig, mein Freund. Es gibt nicht, deshalb Russen. Und es ist total wahr: Polen und Russen haben gemacht ein Manöver in Schlesien, Westen von Krakau.

Er drückte noch einen Menüknopf mit der Maus. Ein Teppich kleiner, roter Punkte mit Beschriftungen erschien auf der Karte.

Jan, hier ist Frankfurt an der Oder, achtzig Kilometer von Berlin. Und kannst du sehen hier, lange, lange Schlange ist vor der Brücke über Fluß Oder. Ja, Jan, kannst du sehen? Die Russen kommen mit Panzern.

Erstmal das Grinsen unterdrücken. Die Kommode-Show wird immer besser. Keiner kann ernster aussehen als er, wenn er dir Quatsch erzählt. unbedingt mitmachen, bis er alle Register gezogen hat. Es gibt so oder so nichts mehr zu lachen in der Wohnung und er hat sich so viel Mühe gemacht mit den Bildern. Moment, wo ist mein ernstes Gesicht?

Kommode, das geht gar nicht. Das können nicht die Russen sein. Das würde doch einer merken. Ich meine, es gibt doch richtige Satelliten, und so. Die Amis, die NATO. Und da leben doch auch Leute, drüben in Frankfurt. Die müssen doch was sagen, wenn da plötzlich so viele Panzer angerollt kämen. Das ist ein Witz. Irgendwer hat sich da eingehackt und spielt jetzt dritten Weltkrieg mit Pixeln auf Landkarten. Kommode, ich sage es ungern, aber das kann ich nicht ernst nehmen.

Doch, doch, Jan. Hier ist Blog von Polen in der Nähe von Grenze. Er schreibt, dass er Panzer gesehen hat. Stehen vor Haustür bei ihm in der Straße. Das ist sehr, sehr richtig, mein Freund. Russen sind auf der Straße nach Berlin, morgen hier.

Nee, echt. Is' bestimmt Teil von dem Manöver. Vielleicht haben sie sich auch verfahren, oder es sind doch die Polen. Kommode, die russische Armee und die Panzer und so, die können nicht hierher kommen. Das ist total crazy. Echt geile Idee. Und schöne Bilder, gut gemacht. Echt crazy.

Hm, ja. Crazy.

Naja egal, wenigstens kriegen wir nicht auch noch Besuch die nächsten Tage. Ist so schon schlimm genug alles hier. Und wenn die Russen doch kommen, dann können sie ja bei Georg im Zimmer schlafen.

Sehr witzig. Sieh mich lachen: Haha, hoho. Du wirst sehen, Jan. Fast sind Russen da.

Schon klar, Kommode. Hoffentlich haben sie genug zu Essen dabei. Ich geh dann mal wieder, Kommode. Kannst du vielleicht die Müllsäcke runterbringen morgen?

Hm.

Danke. Bis morgen. Gute Nacht, Kommode.

Hm.

Flurbereinigt

Ich rannte nach Hause. Meine Biostofftaschen klatschten mir gegen die Beine. Hoffentlich platzt die Milch nicht. Eigentlich gab es keinen Anlaß zu rennen, aber die Räder auf den Hochbahnschienen hatten den gleichen Krach gemacht, der mich zuhause erwartete. Schnell jetzt. Es ging die Treppe hoch wie hundert Meter Hürden und Tütenweitwurf. Die Stufen knarzten und krachten wie ein Tieffliegerangriff auf eine Holzhandlung. Ab dem dritten Stock keuchte ich ungesund durch die staubige Hausluft. Auf unserem Absatz kam der heftige Dunst von fünf prall gefüllten gelben Säcken dazu. Hinter der Tür dann die richtig dicke Luft. Alle Zimmertüren waren zu und kein Laut zu hören.

Jemand hatte die Schuhe am Eingang zusammen sortiert und parallel ausgerichtet. Nicht gut. Vor dem Bad stand pointiert ein blitzender Putzeimer, so als wäre er nach besonders dreckigem Gebrauch mit einem frischen Lappen gewienert worden. Hier war ein grausames Ritual gefeiert worden und die Wunden der Opfer bluteten. Das frisch gespülte und abgetrocknete Geschirr roch nach Zitrusfrische aus der Küche bis in den Flur. Ich konnte die Marterschreie schon hören. Neben dem Telefon lag ein neues Blatt für die Abrechnung. Die Linien waren wie mit dem Rohrstock gezeichnet. Dann der Todesst0ß. Hinter dem Putzeimer stand eine Sprühflasche Fensterglasreiniger mit der Verschlußkappe auf scharfem Strahl. Daneben lagen zwei Putzschwämme parallel ausgerichtet – einer mit dem Wort „Toilette“ darauf – und davor im rechten Winkel ein Filzschreiber. Aus, aus, aus. Das war's. Ein einsames Staubkorn tanzte unter der unsichtbaren Oberlichtscheibe hindurch. Nichts rührte sich in den sechs Zimmern des Ganges, die zusammen heute morgen noch eine WG waren, aber jetzt eine multiple Single-Wohnung mit bewegter Vergangenheit.

Ich brachte erst mal mit verrenkten Füßen die Einkäufe in die Küche, ohne mit den Schuhsohlen den frisch gewischten Boden ganz zu berühren. Die Fächer für die Vorräte hatten kleine Schildchen dran, aber ich wußte wie immer nicht, ob ich den Reis unter „Stärke“ oder „Ballaststoffe“ einordnen sollte. Neben Georgs Vorstellungen von Ordnung war das bürgerliche Recht der alten Römer eine Kinderladenselbstverpflichtung. Die Taschen flogen erstmal hinter die Kammertür. Da waren nur schon die drei Stiegen Kaiserpils gestapelt, die eigentlich neben die Badewanne, unter die Klo-Comics gehört hätten. Aber Lebensmittel im Badezimmer waren ja unhygienisch in Georgs blitzender Welt, die er gnädig mit uns teilte. Dagegen lehnte sich prall aber lässig ein blauer Müllsack, aus dem ein Handschuh und die Spitze von unserem schrottigen Regenschirm herausragten. Die Wohngemeinschaft war fertig, total durch, am Arsch. Alles sauber und deswegen am Ende. Wo könnte man jetzt auf die Schnelle neue Leute herbekommen? Eigentlich könnte das Georg gleich mit übernehmen, wenn er sich nach stundenlangem Putzdruckablassen noch bewegen kann. Wo war Georg? Georg mußte jetzt ran, nach der aseptischen Wüste von einer ehemaligen WG die er hier fabriziert hat. Mal klopfen. Als ich die Türe aufzog brachen alle Dämme.

Du Georg, hi …

Gut das du endlich irgendwoher kommst. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los war, was ich hier durchgemacht habe. Es war furchtbar. Es war unmöglich. Es war entwürdigend. Ich, ja ich, habe den ganzen Tag damit verbracht, hier ein bißchen Ordnung zu machen. Irgendwer mußte ja mal irgendwas tun. Und dann, und dann, dann kommt diese, diese, also irgendeine diese … also Tania, sie kommt nach hause und sagt zu mir, sagt zu mir dass …

Georg, wo ist Tania?

Das ist mir scheißegal wo diese Person ist. Irgendwie scheißegal, sag ich dir. Und die anderen sind mir auch scheißegal. Und du kannst dieser Schaluppe sagen, sagen kannst du ihr… Irgendwas!

Eine Tür am anderen Ende des Ganges flog auf und ein Block von einer Frau stampfte auf den Flur.

Was kannst du wem sagen, du mieser kleiner Pseudoschwuler. Du verdammter Korinthenkacker. Was soll die Scheiße mit dem Putzwasser und der Tür heute, du kleiner …

Die Tür vorne rechts öffnete sich und Katharina Maria Christina Elena kam heraus.

Ich kann nicht verstehen, wie ihr könnt schreien, dass ich kann nicht hören, was ich muß arbeiten. Könnt ihr nicht leise sein, wie man braucht, für arbeiten.

Halt dein dummes Maul, du dumme Schlampe!

Georg!

Georg, das kannst du nicht machen.

Ist mir scheißegal, ich hab den ganzen Tag geputzt und keiner hat…

In diesem Moment überschlug sich seine Stimme und er kiekste ein paar mal. Katharina schüttelte ihre blonden Haare, das die Silberohrringe glitzerten, aber Georg hatte sich schon wieder gefangen, bevor sie etwas sagen konnte.

Überhaupt keiner hat es irgendwie gewürdigt.

Es herrschte lange genug Ruhe damit alle über das Wort „Würde“ im Zusammenhang mit Georg nachdenken können. Da würde ich mal sagen:

Georg beruhige dich!

Am Ende des Flurs klickte eine dritte Tür einen Spaltbreit auf, als sich Katharinas volle Figur in Position warf.

Georg, ich finde, du mußt anderen Ton finden zu reden mit Leuten. In Polen …

Ich will es nicht hören! Ich habe letzte Woche extra einen Zettel neben das Telefon gelegt und keiner hat was gesagt und keiner hat sich blicken lassen. Keiner! Und dann hab ich heute auch noch die Fenster geputzt, obwohl ich gar nicht dran wäre bis übernächsten Monat.

Tanias Stirn verfinstert sich wie das Harzgewitter, unter dem sie geboren ist.

Und dann hast du, verdammt noch mal, Wasser unter meiner Tür durchgeschüttet, damit ich mich auf die Fresse lege, wenn ich nach Hause komme.

Hab ich nicht.

Doch hast du, da iss'en Riesenfleck jetzt.

Ja, wenn du mal selber deine Bude aufräumen würdest. Und überhaupt tropft bei dir doch eh ständig Schweiß auf die guten Dielen. Wie wir das wieder wegbekommen sollen. Das gibt doch Stellen! Wie sollen wir da unsere Kaution wieder bekommen, wenn wir hier rausmüssen?

Was geht dich das denn an? Jan, erklär mir, warum ihn das was angeht. Oder geht ihn das was an, mein Boden, oder wie oder was? Du verdammte Stewardess!

Hach! Hörst du das? Sie hat mich Stewardess genannt. Du bist so eine, irgendwie, du bist so eine Obelixschwester!

WAAASS, ich bin nicht dick, du magersüchtige Marketingschwuchtel, und auch keine beschissene …

Leute, bitte!

Die Tür gegenüber von Georgs Zimmer ging auf. Achim der Expunk, in seinen Arbeitsklamotten, Anzug, Krawatte, schwarze Lackschuhe, kam heraus, mit einer großen Papiertüte in der Hand. Seine Augen sahen aus, als wollten sie auf die eigenen Kontaktlinsen fokussieren. Er latschte die vier Schritte bis zur Badtür, schwenkte sie auf, schlurfte rein und zog sie ungerührt von innen wieder zu. Vier Augenpaare folgten ihm ungläubig, um dann zum Thema zurückzurucken.

Jan, jetzt sag doch auch mal was.

Also ich …

Jan!

Ja, Katharina?

Ich kann nicht so machen. Ich werde ausziehen hier, diesen Sonntag. Ich gehe nach Charlottenburg.

Die spaltoffene Tür am Ende des Flures krachte zu. Katharinas Tür machte es ihr nach.

Willkommen bei uns. Das Problem ist nicht, dass wir eine schlechte WG wären; oder dass wir nicht zusammen wohnen wollen mit anderen Leuten. Das Problem sind nicht die leeren Versprechungen, die endlosen Spülplangespräche, die heftige Enttäuschung vager Erwartungen oder das nur halbherzige Einfangen wild gewordener Gefühle. Hier ist es nicht wie bei den Altkommunarden ohne emotionale Intelligenz und Geschlechterkompetenz. Auch das Putzproblem wird, selbst mit Georg als Mitbewohner, maßlos überschätzt. Tödlich ist nur, dass wir alle sonst nichts zu tun haben, außer uns sanft und milde scheiße zu finden.

Das hinter der Tür war Kommode. Keine Ahnung, wie er sonst wirklich heißt. Auf seinem Untermietvertrag steht etwas unlesbares Ungarisches, aber unterschrieben hat er mit „Kommode“. Kennt ihr Geschichte von Mann der gebaut ist wie Schrank? Bin ich auch, nur kleiner. Er kommt aus Budapest, ist für ein Jahr in Wien zur Schule gegangen und spricht Deutsch wie ein Kaiserundkönigskind. Aber sehen und hören kann man ihn meißtens nur, wenn man ihn in seinem Kabelsalat aufsucht. Draußen bewegt er sich nur, wenn er dem Pizzamann aufmacht, oder zum Elektronikladen gehen muß. Und man sieht ihn nie, nie und selten auch manchmal gar nicht wenn Katharina-Maria in der Nähe ist. Am Anfang haben wir ja alle gedacht, er könnte sie nicht riechen – Konkurrenz ehemals kommunistischer Länder und so. Stalinismusopferwettkampf. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur riecht er sie, er schmeckt, fühlt und weiß alles über unsere Miss Krakau mit den spitzen weißen Schuhen. Keine Ahnung, wie er das macht, wenn sie eigentlich nie zusammen in einem Raum sind, aber Türspalte, Spiegel und die kleine Kamera, die wir beim Streichen vor Weihnachten gefunden haben, scheinen eine Rolle zu spielen. An der Rückseite seiner Zimmertür hängt jedenfalls ein Zeitplan, auf dem in verschiedenen Farben Jazz-Dance Kurse, Frisörtermine und Beichtstunden eingetragen sind. Es kann natürlich sein, das das so was wie sein heimliches Fantasieleben ist, das er nur nicht schafft einzuhalten, solange er noch wie eine kurzrasierte Kartoffel auf zwei Beinen aussieht und von Jedi-Kräften träumt, die man mit selbstgebauten Antennen auffangen kann. Bisher hat sich noch keiner getraut ihn zu fragen. Aber alles zusammengenommen gehört Kommode auf die gute Seite der Macht. Er ist der einzige, der mit Achim klar zukommen scheint. Jedenfalls reden die beiden gelegentlich auf dem Flur; am ersten Wochenende im Monat, wenn alle guten polnischen Töchter zu ihren Eltern fahren und die freie Wildbahn außerhalb seines Zimmers nicht begegnungsgefährdet ist. Dann sprechen er und Achim manchmal vor meiner Zimmertür über Halbleitertechnik, obwohl es dem formelsurrenden Klang nach auch Raketenforschung sein könnte, oder Linux.

Leck mich, Jan!

Hä, was?

Leck mich sonstwo, er will es nicht kapieren. Die alte Pseudotucke rafft es nicht. Es ist vielleicht meine Sache, ob ich beim Gewichtheben mir ordentlich die Suppe läuft und davon was auf den Boden tropft. Was geht den das an? Das ist Biologie. Das sind Nachrichten ans andere Geschlecht. Und an das gleiche.

Tania kann lachen wie ein 500 Kubikzentimeter Motortopf der über den Parkettboden donnert. Sie hat wirklich mal einen reparaturbedürftiges Motorrad allein in den fünften Stock gewuchtet, aber Georg hat so ein Geschrei gemacht wegen Ölflecken, daß sie den Motor raus genommen hat, und den Feuerstuhl nur noch als Sofa benutzt.

Es ist ja nich' so, als ob ich es hinterher nicht wegwischen würde. Und überhaupt, Georg, bist du meine Mutter, oder meine Schnitte, dass du glaubst hier rumnölen zu können.

Ja, äh, klar, Tania. Also Schorschi … bist du ihre Mutter?

Jan, also das war zuviel. Ihr glaubt zwar alle, dass mir das nicht wehtut, aber irgendwann kann ich auch nicht noch mehr Therapiestunden in der Woche machen, um eure miesen Beleidigungen irgendwie aufzufangen. Mir reicht's. Ab nächste Woche könnt ihr euch alleine einen putzenden Mann suchen. Das hat mit mir gar nicht mehr irgendwas zu tun.

Georg zog seine Tür leise hinter sich zu. Er schlägt keine Türen, wenn man mit stiller Grazie und einem abschätzigen Ganzkörperzucken nach hinten viel besser beleidigt sein kann. Die Tür ging aber noch wie in Zeitlupe kurz auf, für ein tiefstimmig vorgetragenes:

Und ich bin keine Schwuchtel, du Schlampe!

Das stimmt, Georg ist nicht schwul. Aber keiner glaubt es ihm. Er kann noch so oft irgendwelche Frauen anschleppen, zum Krafttraining gehen und das Bier faßweise in sich reinschütten. Die Leute nehmen nur an, dass er mit den Damen in seinem Zimmer Prosecco schlürft und ihnen Bilder zeigt, die er heimlich von den knackigen Kerlen im Studio gemacht hat. Ich weiß auch nicht woran das liegt. Manche Leute sind eben so. Dabei ist er eigentlich nur mit dem weiblichen Teil seiner Seele in harmonischer Ausgeglichenheit und Balance – wie ein Elefant und ein Wattebausch auf einer Balkenwaage. Aber er putzt gerne und gibt damit an. Vielleicht ist er doch schwul.

Tania, muß das sein? Haben wir das auch noch gebraucht?

Nee, was soll das denn jetzt heißen? Wir haben das Putztheater so sehr gebraucht wie noch eine WG-Konferenz, Jan. Das ist halt Georg, und das muß echt alles anders werden. Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen, dass ich mich in der Szene umgehört habe, und ich glaube, dass Janine oder Willi, eine von denen, jetzt auch bald soweit sein wird. Dann suchen wir. Und wenn wir was gefunden haben, dann wirst du als erster was hören, versprochen.

Aha.

Ja, ich will sie jetzt eh gleich anrufen. Vielleicht war heute ja was dabei. Und mach mal die Telefonrechnung! Ich muß die letzten zwei Monate nachzahlen und jetzt kann es ja schnell gehen. Ich will hier nicht mit Schulden raus. Bis später Jan, ciao.

Ich wollte mich hinsetzen, am besten im Zimmer. Aber im Zimmer waren die Geschichtsstapel, da konnte man sich nicht ausruhen. Ich ging zu Kommode rüber und klopfte an Kommodes Tür, an der auf der Rückseite der Mädchenplaner hing.

Reinkommen!

Kommode schien heute noch mit keinem realen Menschen kommuniziert zu haben. Jedenfalls hat er den Pußta-und-Paprikaakzent nur, nachdem er länger kein Deutsch gesprochen hat. Eine Wiese aus kleinen Lämpchen blinkte fröhlich vor sich hin, am alten Laptop, am neuen Laptop, am Hauptdesktop, am Rendersklaven, am Haupt- und Nebendrucker, an den drei externen Festplatten, an den parallel geschalteten Monitoren, am alten und am kleinen Fernseher, an der Ergo-Tastatur und an der Zwanzigerstromsteckerleiste. Darüber rankten sich Kabellianen von einem Elektronikfelsen zum nächsten und rüber ans Fenster zur Antennenstange. Mitten drinnen in dem ganzen Gewirr ragte der warzige Joystick empor, der nicht blinkte. Dafür tat das der vieretagige Funkwecker neben der Luftmatratze an der anderen Wand.

Mein Freund, guten Tag. Die Russen kommen.

Ja klar. Deshalb mußt du jetzt auch ausziehen, wie alle Anderen. Georg und Tania und Katharina-Maria.

Ah, ich kann nicht verstehen, warum diese Frau etwas macht. Aber ich kann sagen, dass Georg sicherlich will ausziehen, weil er mehr Platz zum Putzen braucht.

Nur Kommode konnte so etwas sagen, ohne zu grinsen.

Und Tania, eine sehr starke Frau ist Tania. So, sie will ausziehen, weil sie ihre Schweiß lieber auf den Boden von ihrer Freundin tropfen lassen will.

Jetzt lachte er doch glucksend wie aufgewärmtes Gulasch. Ungarischer Humor ist zum Glück meißtens unübersetzbar. Besser nicht darüber nachdenken.

Ja ja, und, was wird mit uns? Wo sollen wir jetzt so viele neue Leute her bekommen?

Ich weiß nicht, mein Freund. Es wird alles so werden wie es wird.

Irgendwo in Ungarn hat es ein Kombinat gegeben, dass die Volksversorgung mit Lebensweisheiten sichergestellt hat. Nach der Wende wurde es privatisiert, billig von Investoren aus dem Westen gekauft und in den Konkurs geschickt. Seitdem wird in Ungarn wieder von Hand gearbeitet.

Katharina-Maria will auch ausziehen, Kommode.

Ja, du hast gesagt.

Ja, sicher. Du hast es bestimmt auch gehört.

Hm.

Egal. Ich geh dann mal rüber, Kommode. Wir sehen uns morgen.

Jan!

Ja?

Wegen der Telefonrechnung. Ich muß noch bezahlen zwei Monate. Willst du jetzt? Zeit für Abrechnung ist nah, und ich will nichts übrig lassen von diesem Leben.

Schon gut, Kommode. Ich mach das schon.

Nichts wie weg hier. Ich ging rüber in meine Büchertruhe. Wenn meine Zwischenprüfung eine unüberwindliche Mauer ist, dann sind die ganzen Bücherstapel die Wachttürme dazu. Und das Ganze bröckelt zwar mit jedem Semester mehr ab. Aber noch bewachten die Bauernkriege das Fenster. Der zweite Weltkrieg blockierte das Waschbecken. Die Frühantike hielt heroisch den Lattenrost vom Bett hoch, wenigstens an einer Ecke. Der Turm über das frühe Mittelalter und die Völkerwanderung war vor ein paar Tagen eingestürzt und lag wie drapiert neben dem Schreibtisch. Ein bißchen Staub marmorierte die Titelseiten. Alles zusammen faules und verfallenes Abendland bereit für den Hunneneinfall. Die demokratische Mehrheit im WG-Rat hatte meine Putzfrauenresolution abgeschmettert; Georg aus Prinzip und weil er es selber viel besser konnte, Tania wegen des Geldes und Katharina-Maria weil sie nicht wollte, dass eine andere Frau ihre Sachen durchwühlte. Ich hatte stundenlang argumentiert, dass man unter diesen Bedingungen nicht geistig arbeiten könne. Bei diesen Gegebenheiten kann doch kaum von einem erwartet werden, sinnvoll über das Historische-an-sich nachzudenken. Zur Sicherheit hatte ich noch ein dichtes Heideggerzitat nachgeschoben, das ich gerade im Seminar gehört hatte, was aber die Anderen, antiintellektuelles Berufsausbildungspack, nicht überzeugt hat. Heidegger, Prüfung, Mauer, Telefonrechnung, Völkerwanderung, Ausziehen. Diesmal schlug mal endlich so richtig eine Tür, als ich die von Kommode aufschmiss und durchkrachte wie vom römischen Katapult geschossen.

Russen! Was für Russen?

 

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Teil 1 des Romans: Die Russen kommen

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2 thoughts on “Die Russen kommen (Teil 1)

  1. Russen
    Ich weiß nicht was ihr wollt, die Russen sind doch ein nettes Völkchen, die Tanzen gerne und Wodka saufen können sie auch super gut, es gibt doch jetzt die neureichen Russen … na die kannst doch mal einladen , die bringen bestimmt noch was zu Essen mit, das noch lebt, wegen der Frische halt.
    Na viel spaß noch Steven

    1. Da lob ich mir die Preussen
      Die sind zur historischen Stufe des Anarchismus übergegangen und haben kein Land mehr und keinen Staat. Nur noch eine Kultur und Geschichte und sind der virtualisierte Schreeeeeecken der Weisswürstchen und Lederhosen. Übrigens heissen die Preussen ja auch Borussen auf lateinisch womit wir den Link zu den Russkis hätten, Flo. Vielleicht sind sie sowieso unter uns… ohne dass wir es gemerkt haben.

      So lasset uns zum Seppuko schreiten.

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