Lerntheorien und neuere kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse: Implikationen für den Unterricht

Die wissenschaftlichen Positionen zum Lernen und Lehren (Lerntheorien) werden in diesem Beitrag anhand aktueller Literatur nachgezeichnet. Das Konstrukt der pedagogical content beliefs, wie es von Peterson et al. (1989) sowie Staub und Stern (2002) genutzt wird, stellt ältere Theorien zu den Teachers’ Beliefs und neuere kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse gegenüber.

Die wissenschaftlichen Positionen zum Lernen und Lehren (Lerntheorien) werden in diesem Beitrag anhand aktueller Literatur nachgezeichnet. Das Konstrukt der pedagogical content beliefs, wie es von Peterson et al. (1989) sowie Staub und Stern (2002) genutzt wird, stellt ältere Theorien zu den Teachers’ Beliefs und neuere kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse gegenüber.

Ausführungen zu den lerntheoretischen Schulen sind nach der Auffassung von Wissen, dem Verständnis des Lernprozesses und Implikationen für den Unterricht unterteilt. In den jeweiligen Abschnitten werden die Sichtweisen beider lerntheoretischen Überzeugungen einander gegenübergestellt. Natürlich können die Theorien in diesem Beitrag nicht allumfassend erläutert werden. Deshalb beschränken sich die Ausführungen auf einige wesentliche Aspekte, die ich als besonders fruchtbar für weitergehende Überlegungen betrachte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte die Assoziationspsychologie und später der Behaviorismus die wissenschaftlichen Auffassungen zu Lernen und Lehren. Wie Staub und Stern (2002) berichten, prägt diese Sichtweise bis heute den Schulalltag (siehe auch Handal, 2003; Pajares, 1992; Thompson, 1992). Die daraus herrührende Vermittlungsüberzeugung bedient sich weiterhin behavioristischer Prinzipien. Die Darstellungen der Vermittlungsüberzeugung in diesem Beitrag gründen sich vor allem auf die Überblicksartikel von Collins et al. (2001), Greeno et al. (1996), Handal (2003), Holzinger (2001), Mayer (2003), Shuell (2001) und Slavin (1994) sowie den Aufsatz von Staub und Stern (2002).

Seit die kognitive Wende in den 1960er Jahren in der westlichen Psychologie allmählich das Bild des Reiz-Reaktions-Lernens abgelöst hat, etablierten sich neue Paradigmen, welche zum einen die Konzeption von Wissen grundlegend veränderten und zum anderen damit auch Verarbeitungs- und Konstruktionsprozesse in der lernenden Person anders zu betrachten verlangten (vgl. A. M. Collins et al., 2001; Greeno et al., 1996; Handal, 2003; Holzinger, 2001; Kunter, 2005; Mayer, 2003; Oerter, 2001; Reimann-Rothmeier & Mandl, 1998; Shuell, 2001; Slavin, 1994; Staub & Stern, 2002, die auch Grundlage für die folgende Darstellung der Konstruktionsüberzeugung bilden). Die Konstruktionsüberzeugung erhält ihren Namen aufgrund umfassender Einbeziehung von Argumenten konstruktivistischer Lerntheorien. In die Darstellung werden auch soziohistorische (Keiler, 1997; Wygotski, 1974) und weitere kognitivistische Ansätze eingeflochten. Dies entspricht neueren Darstellungen, die gelegentlich soziohistorische den konstruktivistischen und diese den kognitivistischen Theorien zurechnen (siehe exemplarisch Collins, Greeno, & Resnick, 2001; Greeno et al., 1996; Mayer, 2003; Sfard, 1998; Slavin, 1994).

Wissen

Vermittlungsüberzeugung. Es wird in der behavioristischen Tradition davon ausgegangen, dass der Lerninhalt sich vollständig auf Reiz-Reaktions-Verküpfungen reduzieren lässt. Diese lassen sich wie Objekte durch den Lernenden erwerben’. Der ‚Besitzer’ des Wissens hat damit „(…) an organized collection of connections among elementary mental or behavioral units. These units may be elemetary sensory impressions that combine to form percepts and concepts, or stimulus-response associations (…)” (Shuell, 2001, S. 8614). Diese Verknüpfungen können beobachtet oder gemessen werden, wie beispielsweise der erhöhte Speichelfluss beim Pawlow’schen Hund oder ein Gedichtvortrag eines Schülers in der Schule. Damit ist in dieser Konzeption Wissen auf das Zeigen bestimmter Verhaltensweisen in bestimmten Situationen beschränkt.

Konstruktionsüberzeugung. Während der frühe Kognitivismus Wissen noch als eine objektive Größe ansieht, wird diese Ansicht durch den Konstruktivismus revidiert. Das Wissen jedes Individuums wird als eng verknüpft mit individuellen Erfahrungen und Vorstellungen und damit als hochsubjektiv betrachtet. Im Lichte dieser kann eine objektiv identische Situation von verschiedenen Menschen interindividuell unterschiedlich repräsentiert werden. Von den Personen werden Informationen nicht als einzelne Einheiten im Gedächtnis gespeichert, sondern zu komplexen Konzepten verbunden. In diesen Konzepten können beispielsweise subjektive Erfahrungen, Regeln, Ideen und geeignete Anwendungen einer Domäne eine übergeordnete Einheit bilden. Der Begriff des konzeptuellen Verstehens gründet sich auf der gerade beschriebenen Vorstellung. Die soziohistorische Schule fügt dem Bild noch hinzu, dass Wissen nicht in isolierten Individuen existiert, sondern von der Kultur und ihren Gütern getragen wird.

Lernprozess

Vermittlungsüberzeugung. Der Schüler nimmt nach behavioristischer Auffassung das Wissen am besten auf, wenn der Lehrer mit zeitnah eingesetzter Verstärkung arbeitet, das heißt gewünschtes Verhalten belohnt und/oder ungewünschtes Verhalten bestraft. Werden einzelne Fertigkeiten oder komplexeres Problemlösen oft genug geübt, kann sich Verständnis entwickeln. Dabei ist die Rolle des Lerners eher passiv. Er nimmt lediglich den Unterrichtsstoff auf, den der Lehrer in möglichst kleinen, überschaubaren und gut strukturierten Einheiten vorträgt. Der Lehrer hingegen sollte das Lernumfeld kontrollieren, um gezielt beim Schüler neue Stimulus-Reaktions-Verkettungen zu erzeugen. Damit trägt er natürlich auch die direkte Verantwortung für den erzielten Lernerfolg. Fehler sollten aus der Vermittlungsüberzeugung nach Möglichkeit unterbunden werden, da sonst das Risiko falscher Assoziationen, also ungewollter Verknüpfungen von Wissensbausteinen besteht. Diese müssten dann mit großem Aufwand gelöscht und neu ausgeprägt werden. Eine gute Unterrichtseinheit ist aus der Vermittlungsüberzeugung dann erfolgt, wenn es dem Lehrer gelungen ist, sein Wissen möglichst verlustfrei an die Schüler weiterzugeben.

Konstruktionsüberzeugung. Die Umstrukturierung (conceptual change) oder Erweiterung (conceptual growth) der bereits vorhandenen Wissensbasis beziehungsweise eines Teils aktueller Überzeugungen (Sinatra und Kardash, 2004; Sfard, 1998) sind entscheidende Merkmale des Lernprozesses aus konstruktivistischer Perspektive. Eine Veränderung aktueller Konzepte ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn der Lernende mit alten Erklärungsmustern unzufrieden ist und neue plausibel, überzeugender und nützlicher sind, sowie sich in alte Konzepte integrieren lassen. Aus diesem Grunde sind auch Fehler des Lernenden durchaus günstig für seinen Lernfortschritt. Dabei wird aus der Konstruktionsüberzeugung davon Abstand genommen, Lernstoff in kleine und abstrakte Informationseinheiten (so genannte chunks) aufzuteilen und diese einzeln zu lehren. Stattdessen wird angenommen, dass es günstiger ist, den Lerner mit komplexen, aber lebensnahen und bedeutungsvollen Inhalten zu konfrontieren. Diese helfen ihm, bisher bereits erarbeitete Konzepte zu nutzen und mit Unterstützung fachkundiger Lehrer (scaffolding) auszubauen oder abzuändern. Damit kommt dem Vorwissen des Lerners eine entscheidende Bedeutung zu.

Zudem wird in gegenwärtigen Modellen Lernen als ein aktiver und sozialer Konstruktionsprozess der Schüler betrachtet. Das bedeutet, dass Lernen immer innerhalb eines Kulturkreises stattfindet, dass der Lernende durch soziale Interaktion motiviert wird, seine Ziele unter Berücksichtigung seines sozialen Umfeldes entwirft und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit anderen Lernern oder Experten seine Vorstellungen überprüft, gegebenenfalls revidiert und differenziert. Diesen Prozess nennt man auch Ko-Konstruktion. Beim Vertrautwerden mit Konzepten stärkt der Schüler zudem seine Interaktionsfähigkeit durch die Zusammenarbeit mit anderen bei der Bearbeitung bedeutungsvoller und lebensnaher Aufgaben (Shuell, 2001).

Implikationen für den Unterricht

Vermittlungsüberzeugung. Für die konkrete Unterrichtssituation umgesetzt impliziert eine behavioristische Perspektive, dass der Lehrer zunächst sein großes Lehrziel in viele kleine und übersichtliche Teilschritte unterteilen sollte. Diese Schritte sollte der Lehrer zur Vermeidung von Fehlern in der Information und ihrer Übertragung einzeln selbst vor der Klasse erarbeiten oder für eine effiziente Vermittlung durch Medien wie Computerprogramme oder Videos sorgen. Dann sollten diese kleinen Einheiten in ihrer Reihenfolge mit aufsteigender Komplexität von den Schülern ausgiebig geübt werden. Die Lernziele, welche die Lehrkraft zu Beginn einer Unterrichtseinheit präsentiert hat, können dann als Orientierung genutzt werden, um die Schüler regelmäßig mit klaren Rückmeldungen über ihren Lernfortschritt zu versorgen, sie zu Loben und Noten zu vergeben. Um das Wissen zu festigen sollten die Schüler die Aufgaben zu Hause erneut üben. Damit die Wissensvermittlung effizient ist, sollte die Lehrkraft im Lernumfeld potentielle Störquellen wie laut redende oder umherlaufende Schüler unterbinden. Am Ende einer Lerneinheit kann der Lehrer den Lernerfolg mittels Leistungstests leicht feststellen. Dazu entwirft er standardisierte Aufgaben, die messen, in welchem Maße die Schüler einzelne Wissenskomponenten wiedergeben können oder erlernte Fertigkeiten ausüben können.

Konstruktionsüberzeugung. Eine konstruktivistische Position heißt, dass die Rolle des Lehrenden sich besonders darauf bezieht, sowohl individuelle als auch interindividuelle Lernprozesse zu initiieren, zu moderieren und zu fördern. So sollte die Lehrkraft ein anregendes Lernumfeld schaffen, das Lernende animiert, sich aktiv mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen und ihre Konzepte zu erweitern. Dies schließt auch den Ausbau von Kompetenzen in der Lösung von Problemen, dem Schlussfolgern und der Zusammenarbeit mit anderen ein. Dabei sollte die Lehrperson dem Vorwissen der einzelnen Schüler besondere Beachtung schenken (Staub und Stern, 2002; Holzinger, 2001). Da Konflikte neuer Erkenntnisse mit bereits vorhandenem Wissen zu entscheidenden Lernschritten führen können, ist es für den Lehrenden oft günstig, Fehler der Lernenden nicht zu vermeiden, sondern soweit verfolgen zu lassen, bis ihnen Unstimmigkeiten offenbar werden. Andererseits gehört es zu seinen Aufgaben, die Schülerinnen und Schüler an bestimmte Konzepte heranzuführen. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass er geeignete Strategien zur Problemlösung oder Interaktionsskripte zur gemeinsamen Bearbeitung in Gruppen anbietet, wie dies zum Beispiel beim Reciprocal Teaching (Palincsar & Brown, 1984) oder dem Ansatz des Cognitive Apprenticeship (A. Collins, Brown, & Holum, 1991a) der Fall ist.

Die Einschätzung des Lernerfolges kann nach konstruktivistischen Maßstäben kaum aus der Abfrage von Faktenwissen hergeleitet werden. Stattdessen sollte der individuelle Fortschritt in der Konstruktion von Problemen, die Interaktion bei der gemeinsamen Bearbeitung von Aufgaben oder die Nutzung von geeigneten Strategien prozesshaft evaluiert werden. In einer erfolgreichen Unterrichtsstunde aus der Konstruktionsüberzeugung haben die Schüler also ihr konzeptuelles Verständnis einer Problematik grundlegend verändert, erweitert oder ausdifferenziert.

2 thoughts on “Lerntheorien und neuere kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse: Implikationen für den Unterricht

  1. Hi Stefan.

    Kann man NLP
    Hi Stefan.

    Kann man NLP benutzen um besser Freundschaften zu schliessen? Würde es mit Pacing gehen?

    Kannst du mir ein Buch dazu empfehlen, Praxiskurs NLP?

    danke mfg martin

    1. NLP & Freundschaft

      Lieber Martin,

      hmmm… also ich würde ganz klar sagen: ja und nein!
      Ja – wenn man Probleme bei der Kontaktaufnahme hat, kann NLP helfen. Ja – wenn man sein Selbstbewusstsein etwas aufpolieren mag. JA – NLP kann helfen, das eigene Auftreten und die eigene Kommunikation zu beleuchten. Ja – NLP lernt man in Gruppen von Gleichgesinnten (an privaten Instituten oder testweise an Volkshochschulen), mit denen man prima vorurteilsarm Kontakt knüpfen kann. Ja – wenn man Leute kennt, die können, was man selbst können möchte. …und ja – je nach Perspektive kann man mit pacing den Aufbau eines "Drahtes zu einander" erleichtern oder am Pacing erkennen, dass zwei auf der gleichen Wellenlänge sind. Mit anderen Worten: Interessant ist, wer sich interessiert. Spricht man über gemeinsame Themen und geht auf den anderen ein, ergibt sich der Rest (fast) von selbst.

      Nein – mit so ein wenig Technik macht man sich keine Freunde. Nein – Freundschaft ist doch diese Sache mit Vertrauen, gegenseitigem Interesse, durch Dick und Dünn gehen und so weiter… das erfordert schon eher langfristige Gemeinsamkeiten, wo hingegen pacing eher kurzfristig gesehen wird. Nein – stellt sich ein Rapport ein, so ist das allenfalls gute Grundlage für ein Gespräch, aus dem sich längerfristige Freundschaften entwickeln können, nicht jedoch Basis dieser. Nein – irgendetwas "benutzen" – ist in Freundschaften hierzulande verpönt – dann heißt es schnell, man würde manipulieren (was m.E. dann nicht nachhaltig wäre, wenn die Lösung der "manipulierten" Person nicht entspräche).

      Gute Literatur zum Einlesen in die Materie ist für meinen Geschmack Seymour/O'Connor "Neurolinguistisches Programmieren" oder Bandler "Using Your Brain". Letztlich bringt alles Lesen bei NLP wenig! Um NLP wirklich anwenden zu können, muss man es mit anderen Menschen üben, die ein brauchbares Feedback liefern. Nutze eine Ausbildung! Suche Dir eine Übungsgruppe! Schnupper in Infoabende und VHS-Kurse! Gründe selbst Gruppen zu spannenden Themen (im real-life, z.B. NLP)!

      Soweit – ich hoffe, Deine Frage ist beantwortet.
      Steffen

Comments are closed.