Ich denke, die Leser werden das bisschen nicht all zu ernst gemeinten Zynismus vertragen (zum 9. November 1989, Nachtrag)

Es scheint Menschen zu geben, die glauben, jeder könne sich gut daran erinnern, was am 9. 11. 89 geschah. Ich nicht. Ich habe ein dunkles Bild im Kopf, wie ich mit meiner Mutter vor dem Fernseher sitze und den einst Getrennten zusehe, wie sie sich heulend in die Arme fallen.

Es scheint Menschen zu geben, die glauben, jeder könne sich gut daran erinnern, was am 9. 11. 89 geschah. Ich nicht. Ich habe ein dunkles Bild im Kopf, wie ich mit meiner Mutter vor dem Fernseher sitze und den einst Getrennten zusehe, wie sie sich heulend in die Arme fallen. Und wie bei der Nachricht, jemand habe einen Passagierjet ins World Trade Center gelenkt – am 11. 9., ein Zufall? – empfand ich in etwa… gar nichts. Das Nächste, an das ich mich zu erinnern glaube, sind leergekaufte Regale. Aber dieses Bild ist subjektiv. Ich kann es in mich aufgesogen haben, mit der Arroganz, die man den Bürgern der alten Bundesländer gemeinhin zuschreibt. Ich denke, diese Nichtachtung dem Osten gegenüber zieht sich durch mein ganzes Leben. Ich chattete und mailte mal mit einem Mädchen, Jennifer, die paßte gut in mein Bild einer Ossi: blond, blöd, rassistisch angehaucht. Meine wenig europäische Hautfarbe bereitete ihr wohl kein Problem. Mein polnischer Freund schon eher. Mit dem Stolz eines Menschen, der glaubt, schon einiges miterlebt zu haben, erzählte sie mir von ihrem einzigen ausländischen Mitschüler – den man kurzerhand aus dem Fenster geschmissen hatte. Das schien Spaß gemacht zu haben, weil er nicht ernsthaft zu Schaden gekommen war. Anders als die seltsame Außenseiterin, deren Haare man angezündet hatte, "um zu sehen, ob die auch brennen können." Sie brannten. Jennifer war wohl nicht daran beteiligt, aber so richtig auszusetzen hatte sie daran wohl auch nichts: Außenseiter sind eben selber Schuld. Etwas später oder vielleicht auch etwas früher gab es ein Treffen mit unserer Partnerschule im Osten. Ein Projekt zur Erörterung der Fragen zwischen Ost und West – Annäherung, Differenzen, Vorurteile etc. Man hatte mich vorgewarnt, aber ich hatte abgewunken, ich wolle mich nicht schon vorher beeinflussen lassen. Das Treffen war ein Witz. Der ersten Überraschung, "Die ziehen sich ja an wie normale Menschen", folgte die Ernüchterung: Parolen von der Aufrechterhaltung der deutschen Kultur – die da wäre? – und von durch Ausländer gestohlenen Arbeitsplätzen. Ich hätte die Warnung ernst nehmen sollen. Bleibt noch mein Freund Sebastian, der eine Punk-Phase durchmachte, aber leider eine Freundin im Osten hatte. Bedeutete seinen Berichten zufolge: Rennen, rennen, rennen. Aber gerannt ist er auch im Westen. Na fein, seit dem Zerbrechen des SED-Regimes hat sich einiges getan: Es macht auf mich den Eindruck, als hätte man im Osten die kulturelle Vielfalt Deutschlands mittlerweile weitgehend verarbeitet. Jedenfalls so weit wie es auch dem Süden Deutschlands möglich war. Und es gibt immer mehr "Ossis" – es tut mir leid, ich finde den Begriff klasse -, die ich mag. Viel schicker sieht's im Osten, nachdem wir ihn teuer aufgepumpt haben wie ein Body Builder seinen nutzlosen Muskelumfang, auch nicht aus. Aber ich denke, wir alle würden nur ungern auf Ostbahnhof, Alexanderplatz etc. verzichten. Und, oh Wunder, der hübsche Erholungspark Marzahn nimmt sich weltoffen aus. Und hier schließt sich der Kreis, denn a) der chinesische Garten dort wurde im Zeichen der deutschen Wiedervereinigung errichtet (den Zusammenhang suche ich vergeblich), und b) dort steht noch ein altes Stück Mauer. Am Ende steht natürlich die Frage, ob es überhaupt noch Unterschiede gibt. Weiß ich nicht, aber Nostalgie ist noch da. Ein Arbeitskollege erklärte mir mal, damals im Osten hatten noch alle Arbeit und Geld. Nur gab es nichts, das sie dafür hätten kaufen können. Oder positiver, wie es Jennifer einmal sagte: "Früher hat man sich noch über ein Überraschungsei gefreut. Ich bitte, meine Vermessenheit zu entschuldigen, und bedanke mich fürs Lesen.