Gerhard Schulzes Modell der Erlebnismilieus

Um Zielgruppen „zu entlarven“ und die Unternehmenskommunikation nach Außen zu erleichtern, bedient sich die Wirtschaft moderner soziologischer Modelle. Eines dieser Modelle bildet der Ansatz von Gerhard Schulze. Schulze ist es gelungen, in einer Zeit, die als Individualisierungsphase angesehen wird, soziale Gruppen zu entdecken, deren Mitglieder sich „durch erhöhte Binnenkommunikation auszeichnen und typische Existenzformen aufweisen“ (G. Schulze, 1993, S. 15). Diese Gruppen treten bei Schulze als Erlebnismilieus in Erscheinung, die sich durch charakteritische Lebenstile und bestimmte Ausprägungen von Lebensalter und Bildung darstellen lassen.

Indem die Theorie von Schulze solche Phänomene wie die Ausdehnung der Freizeit und die zunehmende Konsumorientierung umfasst, versteht sie sich als Gesamtdarstellung des gesellschaftlichen Aufbaus. Damit unterscheidet sie sich von solchen Begriffen wie „Konsumgesellschaft“ und „Freizeitgesellschaft“, die nur bestimmte Blickwinkel ansprechen, aus denen eine Gesellschaft beobachtet werden kann. Die Erlebnisgesellschaft von Schulze fasst den Menschen als Ganzheit mit all seinen Lebens- und Verhaltensformen auf. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass auch aus dem Blickwinkel der Erlebnisgesellschaft keine allumfassende gesellschaftliche Beobachtung möglich ist. Auch Schulze wählt eine spezifische Perspektive, durch die er nur bestimmte Merkmale der deutschen Gesellschaft betrachtet. „Der Titel besagt nicht: diese Gesellschaft ist eine Erlebnisgesellschaft, sondern: sie ist es mehr als andere und zwar in einem Ausmass, dass es sich lohnt, ihre soziologische Analyse auf diesen Aspekt zu fokussieren“ (G. Schulze, 1995, S. 15). Schulze betont, dass sich Individualisierung und Gemeinsamkeit in der Gesellschaft nicht ausschliessen. Individualisierug bedeutet nicht nur, “dass eben jeder jetzt tue, wozu er Lust habe“ (G. Schulze, 1995, S. 33), sondern es bedeutet auch, “dass mit der Vereinfachung des Weges zu immer mehr potentiellen Zielen die Schwierigkeit, ein sinnvolles Leben zu führen, zunimmt“ (G. Schulze, 1995, S. 33). Daher wird Erlebnisorientierung im Sinne einer unmittelbaren Suche nach Glück und Erfüllung zu einer kollektiven Basismotivation.
Empirische Daten

Die empirischen Resultate Schulzes beruhen auf einer persönlichen Befragung von 1014 Einwohnern der Stadt Nürnberg im Alter von 18 bis 70 Jahren, die im Frühjahr 1985 stattfand. Der Fragebogen, der als Basis zur Erstellung der ästhetischen Schemata diente, enthielt Items zu Freitzeitaktivitäten, kulturellen Präferenzen und Gewohnheiten, aber auch zur Wohn- und Arbeitsituation der Befragten. Außerdem beantworteten die befragten Personen schriftlich 180 Fragen zu einer Vielzahl an persönlichen Eigenschaften und subjektiven Aspekten ihrer sozialen Situation. Anhand von Faktorenanalyse und Methoden der klassischen Testtheorie wurden die alltagsästhetischen Schemata bestimmt, die einen Variablencharakter aufweisen.

Subjekt und Situation

In seiner Theorie geht Schulze von einem aktiven Menschen aus und entwickelt eine Handlungstheorie auf der Basis von Subjekt und Situation. Dabei meint er mit dem Subjekt eine unauflösbare Einheit von Körper und Bewusstsein und als Situation beschreibt er alles, was das Subjekt umgibt und mit ihm in Beziehung steht.

Subjekt und Situation tangieren und beeinflussen sich gegenseitig, sie bleiben dennoch immer klar voneinander getrennt. Wie sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Situation verändert, ändern sich auch die Lebensumstände für den Menschen. Da sich das Angebotsvolumen im Alltag des Menschen immer weiter ausbreitet, leidet er nicht mehr unter der Notwendigkeit, sondern eher unter der Qual der Wahl. Bei den Entscheidungen orientiert sich der Mensch an seinen inneren Bedürfnissen: das „Projekt des schönen Lebens“ steht im Mittelpunkt des Handelns. Auch bei der Wahl der Interaktionspartner genießt das innenorientierte Subjekt viel mehr Freiheiten als früher: die Beziehungsvorgabe ist der Beziehungswahl gewichen. Durch das Auflösen traditioneller Vorgaben und festgeschriebener Rollen werden die Gesellschaftsmitglieder dazu veranlasst, ihr Sein selber zu definieren und ihre Kommunikationspartner frei zu wählen.

In der Gesellschaft, in der die sozialen Zwänge wegfallen und wo man die eigene Biographie selbst gestaltet, sorgt die soziale Wahrnehmung für die Herstellug von sozialen Kontakten, für das Zustandekommen sozialer Beziehungen. Die Intensität eines Kontaktes hängt im großen Maße von dem Grad der Ähnlichkeit der Interaktionspartner ab, auf dessen Grundlage sich die sozialen Milieus bilden können. Laut Schulze manifestiert sich diese Ähnlichkeit nach den Variablen Alter, Bildung und Lebensstil einer Person. Die sozialen Gruppen werden vor allem über den Lebenssil definiert, der Gemeisamkeiten des Denkens und Handelns offenbart.

Lebensstile

Lebensstile sind Ausdruck der Persönlichkeit und enthalten Informationen über Geselligkeit, Mediennutzung, Freizeitverhalten und Konsumformen. Sie dienen bei der Zielgruppenanalayse der Beschreibung von Gruppen, Milieus und Konsumenten. Auch Schulze bedient sich der Lebensstile, um Menschen zu identifizieren und sie in Gruppen einzuteilen.

Die Auflösung der ökonomischen und sozialen Zwänge und eine wachsende Autonomität des Individuums in vielen Lebensbereichen führen zu einer zunehmenden Vielfalt der individuellen Optionen und zu einem Pluralismus der Lebensstile. Bei Schulze wird die Suche nach Erlebnissen zum hauptsächlichen Zweck sozialen Handelns, welche die Bildung der Lebensstile bestimmt. Diese Suche nach Erlebnissen verläuft bei jedem Menschen anders – jeder wendet sich in seinem Alltag bestimmten Angeboten zu, die im Endeffekt seinen persönlichen Lebensstil ausmachen. So ergeben sich individuelle aber doch milieutypische, kollektive Stile der Erlebnisorientierung. Trotz der Vervielfältigung der Handlungsalternativen gibt es gruppenspezifische Regelmäßigkeiten und Ähnlichkeiten. Der Mensch hat von Natur aus ein grundlegendes Bedürfnis nach Ordnung und Vereinfachung, daher orientiert er sich bei der Ausrichtung seines Lebensstils an seinem sozialen Milieu. Schulze hat es erkannt und fasst die unendlich große Vielfalt der Lebensstile in drei kollektiven Schemata alltagstäglicher Präferenzen zusammen, an denen sich die sozialen Milieus in ihren Handlungen orientieren.

Alltagsästhetische Schemata

Diese drei zentralen Schemata haben sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der kulturellen Entwicklung Westdeutschlands herausgebildet: Zu ihnen gehören: das Trivialschema, das Spannungsschema und das Hochkulturschema. Sie haben sich nach Schulze in drei Phasen der Nachkriegsgeschichte entwickelt: eine restaurative Phase in den 50er und frühen 60er Jahren, eine Phase des Kulturkonflikts ab Ende der 60er Jahre und eine Phase der Herausbildung der sogenannten „Erlebnisgesellschaft“ in den 80er Jahren.

Das Trivialschema hat sich in der 50er Jahren mit der Lebensphilosophie Wohlstandorientierung, Heimorientierung und Antimodernismus und den ästhetischen Zeichen wie: Heimatfilm, Regenbogenpresse, Schnulze und Gartenzwerg herausgebildet.

Auf der anderen Seite steht das Hochkulturschema, das sich durch elitären Konsum, Vorliebe für klassische und ernste Musik, Lektüre von „Literatur“, von Die Zeit und Spiegel und dem häufigen Besuch in Theater und Ausstellungen auszeichnet.

Das Spannungsschema ist erst aus den kulturellen Strömungen der 60er Jahre hervorgegangen. Es charaktierisiert sich durch ein Bedürfnis nach starken Reizen, der sogenannten „Action“. Die Zugehörigen dieser Gruppe entwickeln eine Vorliebe für Rock- und Popmusik, gehen häufig ins Kino, Nachtsclubs und Diskotheken, interessieren sich für Krimis und oft Besuche untereinander.

Die Schemata bilden Dimensionen eines historisch gewordenen, dreidimensionalen Raums der Alltagsästhetik, in dem sich die gegenwärtigen milieuspezifischen Erlebnisorientierungen verorten lassen und sich die Handelnden durch die Auswahl der Erlebnisangebote und die Ausbildung persönlicher Stile selbst verorten. Die empirisch nachweisbaren aktuellen stilistischen Kombinationen dieser drei grundlegenden alltagsästhetischen Schemata – dargestellt durch die Nähe bzw. Distanz zu den Dimensionen des Raums der Alltagsästhetik – ergeben fünf Varianten der Erlebnisorientierung, denen entsprechende Erlebnismilieus korrespondieren: das Streben nach Rang, nach Konformität, nach Geborgenheit, nach Selbstverwirklichung und das Streben nach Stimulation.

 

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