Die christlichen Wurzeln der Menschenwürde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ – dies beschloss der parlamentarische Rat im Deutschen Grundgesetzbuch am 23. Mai 1949 in Bonn. Doch was genau bedeutet die „Würde“ und wie zeichnet sie sich aus? Was sind ihre Grundlagen? Mit einer regelrechten Selbstverständlichkeit sprechen wir uns dafür aus, die Menschenwürde zu wahren und zu schützen, können den Begriff jedoch nicht ganz erklären oder gar deuten. Klar ist, dass das deutsche Volk nach dem 2. Weltkrieg ein Gesetz benötigte, welches sich rein mit dem Menschen befasst um ihn vor Staat und anderen Mitmenschen zu schützen. Völkermorde von Deutschland ausgehend sollten wenigstens formal unmöglich gemacht werden.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlicher Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (GG Art. 1 Abs. 1 – 3)

Der Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist, bezogen auf alle Grundgesetze und Verfassungen weltweit, einmalig in seiner Ausführung. Seit Mai 1949 kann sich jeder Deutsche zu jeder Zeit auf diesen Artikel beziehen, sobald er sich „unwürdig“ behandelt fühlt. Das Recht auf Würde ist dementsprechend subjektiv und unabdingbar; es steht gegenüber dem mehrheitlichen Willen des Volkes. In unserem deutschen, gewaltengeteilten Staat kann der Einzelne dieses Recht gegen den Willen von 80 Mio. Deutschen geltend machen. Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes zeigt, dass der Staat um des Menschen Willen da ist, und nicht umgekehrt: der Mensch um des Staates Willen. Die Würde ist also die Grundlage und Wurzel der wesentlichen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte Deutschlands; die gesamte Verfassung baut auf ihr auf. Artikel 1 Abs. 1 steht über allen anderen Grundsätzen und Richtlinien des deutschen Volkes. So wirkt auch die Wertgebundenheit des ersten Artikels auf jedes folgende Grundgesetz.

Folgend befasse ich mich mit den christlichen Wurzeln der Menschenwürde. Dabei thematisiere ich den Aufbau der frühchristlichen Gesellschaft und die Definition des „Würdebegriffs“ zu jener Zeit. Das frühchristliche antike Material steht in deutlichem Kontrast zu unserem modernen, von individualistischen Vorstellungen geprägten Nachdenken über menschliche Würde. Vorab muss ich betonen, dass auch dieser Beitrag keine gemeingültige Definition von „Würde“ darlegen kann. Dafür ist der Würdebegriff einerseits viel zu schwer fassbar, andererseits zu komplex und vielschichtig.

Alle Menschen sind gleich – Grundkenntnisse zur frühchristlichen Bezeichnung von „Mensch“

Der Geschlechterunterschied im humanistischen Menschenbild muss zu Anfang dieser Arbeit erwähnt werden, da ihr gesamtes christliches Erbe auf ihm ruht. Wird im Anschluss dieses Kapitels von Menschen und deren Freiheiten gesprochen, so waren im ursprünglichen Sinne nicht alle Menschen damit gemeint. Zwar liefert die Bibel auch viele Möglichkeiten der Gleichheitsgrundlage aller Menschen, jedoch gibt es wesentlich mehr Gegenbeweise, die u. A. die Diskriminierung von Frauen mit sich tragen.

„Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (Gen 1,27).
Diese Aussage ist wohl eine der radikalsten Freiheitsvorstellungen überhaupt. Wenn jeder Mensch Gottes Ebenbild ist, gibt es in der Kernwendung der Rechtsordnung keine Standes- und Rangunterschiede. Jeder Mensch ist mit Personalität, mit Würde ausgestattet und deshalb zur Freiheit befähigt und berechtigt. Doch die weltliche Wirklichkeit widerspricht dieser schöpferischen Theorie der Bibel. Diskriminierungen, Unterdrückungen und Versklavung sind nur einige Schlagwörter, die das freiheitliche und gemeinschaftliche Leben der Menschen schon seit ewigen Zeiten gehindert haben.

In frühchristlicher Zeit wurden dem Mann wesentlich mehr Qualitäten (geistig wie körperlich) zugetraut als der Frau. Der Mann war ein freier Bürger und hatte unter Anderem das Recht am politischen Leben teilzunehmen, aber auch jeglichen Beruf auszuüben. Frauen und Sklaven war es hingegen nicht gestattet bestimmte Berufe zu erlernen, oder sich politisch zu äußern (In Deutschland dürfen Frauen auch erst seit 1918 wählen!). In dem etymologischen Wörterbuch von Gerhard Köbler (1995) wird der Begriff „Mensch“ sogar mit „Mann“ umschrieben. (Vgl. http://www.koeblergerhard.de/derwbhin.html. Köbler (1995) setzt in seinem etymologischen Online-Wörterbuch „Mensch“ auch mit „denken“ gleich. Im Gegenzug dazu wird „Mann“ auch mit dem Begriff „Mensch“ erklärt. Germanisch „manna“ (vgl. ebd.)) Das Wort „Frau“ hingegen stammt lediglich von dem mittelhochdeutschen Wort „vrouwe“ ab und bedeutet „Herrin, Geliebte, Gemahlin“(Auch hier ist Köblers Wörterbuch zu zitieren: http://www.koeblergerhard.de/derwbhin.html.).

Der Begriff „Mensch“ wurde also durch einen Verallgemeinerungsprozess des männlichen Selbstverständnisses geprägt und festgeschrieben. Alles, was Männer selbst an sich schätzen, war normativ eindeutig männlich. So waren Durchsetzungsvermögen, Rationalität und Macht männliche Eigenschaften (vgl. Pieper, 2001: 23). Weiblich hingegen war alles, was die Männer weniger an sich schätzen: Emotionalität, Schwäche und Mitleid sind zu nennende Charakteristika. Männer und Frauen galten so (wie stark wissenschaftlich das zu jener Zeit bewiesen wurde möchte ich nicht ausarbeiten) naturbedingt als unterschiedlich ausgestattet. Der Mann sei das Geisteswesen: klug und zur Herrschaft geboren; die Frau hingegen wurde als anmutiges Leibeswesen gesehen: zum Dienen geboren (vgl. ebd: 23f). Der Begriff Würde wurde dem Mann gleichgesetzt und als Grundlage seiner Identität herausgestellt: Das einstige Menschenbild war patriachal aufgeteilt. Freie und gleiche Menschen waren somit weder Frauen, noch Sklaven, sondern einzig Männer: „Alle Menschen werden Brüder…“ (vgl. Europahymne). Betrachtet man die Deutschlandhymne wird einem rasch bewusst, dass dieses Gedankengut stark in der Gesellschaft verankert ist: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland…“.

Wenn ich in den folgenden Kapiteln von pyramidalen Sozialverbänden spreche, so ist zu unterstreichen, dass die Spitze dieser Pyramiden nur von Männern erreicht werden konnte. Im Gegenzug ist auch nur männlichen Herrscher (Adlige, wie auch Jesus) die oberste Spitze dieser Pyramiden vergönnt gewesen. Das Frauen- und Männerbild in der frühchristlichen Zeit war so klar und akkurat strukturiert, dass es nicht mehr hinterfragt wurde; es erschien einleuchtend und in sich stimmig. Ungleichheiten wie: arm versus reich, Römer versus Barbaren etc. sind – laut Bibel – Klüfte welche erst die Sünde in die Welt gebracht hat.

Die angeborene Ungleichheit der Menschen erkannte auch Cicero. Er selbst erklärte die Sklaverei für unbedingt notwendig, da diese Arbeiten für einen freien Bürger (einem freien Mann) als unwürdig bezeichnet wurden (vgl. Hermann, 1998: 4).

Merkmale dieser männlich-orientierten Gesellschaftsordnung findet man heute noch in vielen Sprachphänomenen: Im Französischen heißt „homme“ Mann und „Homme“ Mensch – eine gemeinsame Wurzel des Begriffes ist nicht abzustreiten. Die Bezeichnungen „Dämlich“ und „Herrlich“ aus dem deutschen Vokabular verstärken die oben genannten Erkenntnisse ebenso. Die Benachteiligung der Frau ist auch heute noch ein politisch brisantes Thema, Frauen dürfen sich z.B. in Deutschland erst seit 1918 an Wahlen beteiligen. Die Politik arbeitet noch sehr jungfräulich, was die Gleichstellung beider Geschlechter betrifft. Im Gegensatz zu der Antike sind jedoch schon umfassende Fortschritte bezüglich der Gender- Politik zu verzeichnen. Eine Frau hat heute genauso viel Recht auf Würde wie ein Mann und muss bei Verletzung der Würde eines Anderen die gleichen staatlichen Konsequenzen befürchten wie ein Mann.

Der Begriff der „Würde“ Abgrenzung zu den Menschenrechten

Mit der Bezeichnung „Menschenrechte“ können wir, zumindest in der westlichen Welt, etwas anfangen. Uns fallen Stichworte wie z.B.: Recht auf Meinungsäußerung, Recht auf Freiheit, Recht auf soziale Hilfe und noch viele mehr ein. Menschenrechte sind für uns so selbstverständlich wie greifbar, doch wird meist von ihnen gesprochen, wenn gegen sie verstoßen wird. An die Bedeutung des Wortes „Menschenrechte“ nähert man sich zunehmend anhand positiver Definitionen: Menschenrechte geben jedem Menschen den Anspruch auf Schutz durch das Gesetz. Außerdem ist jeder Mensch vor dem Gesetz gleich (vgl. Watzal, 2004: 41ff).

„Menschenwürde“ hingegen ist ein schwer definierbarer Begriff. Juristen wie Ethiker lassen ihn einerseits unbestimmt, andererseits offen – in Schriften erklären sie dieses Wort oft mit sich selbst. Und dabei bildet die Menschenwürde doch die moralische Grundlage unseres allgemeinen Rechts und auch der Menschenrechte. Wir haben also ein Anrecht auf spezifische Untersuchung des Begriffs, zumal unser gesamtes Grundgesetz auf dem 1. Artikel basiert.

Die Bezeichnung „Menschenwürde“ stammt aus der humanistischen Tradition Europas. Menschen untereinander unterscheiden sich durch ihre Hautfarbe, Kleidung, Religion, Sprache etc. Von anderen Lebewesen grenzt sich der Mensch vor allem durch die Würde der Person ab. So sind die Menschenrechte im Würdebegriff verankert. Jedes Menschenrecht kann nur eingehalten werden, sofern Rücksicht auf die Würde der Person genommen wird (vgl. Pieper, 2001: 19). Umgekehrt ist es ähnlich: Bei Wahrung der Würde einer Person, muss auch zugleich dessen persönliches Menschenrecht geschützt werden.

Nähern wir uns also dem Begriff als solchen: Laut Duden (vgl. Müller, 1972: 773) wird die Würde mit Ansehen, Ernst und Vornehmheit beschrieben. Der Begriff „würdelos“ hingegen wird positiv mit sich selbst erklärt: unwürdig, menschenunwürdig, unterwürfig; womit wir wieder am Anfang der Diskussion stehen. Die Betrachtung des Bedeutungswörterbuches (vgl. Grebe, 1970: 781) bewirkt eine explizitere Herangehensweise an den Begriff: „Haltung, die durch das Bewusstsein vom eigenen Wert oder von einer geachteten Stellung, die man innehat, bestimmt wird.“ (Grebe, 1970:781).

Etymologisch stammt der Begriff vom mittelhochdeutschen „wirde“ ab. Das Wort Wert stammt aus der gleichen Wortgruppe. Würde ist dem Wort Wert entlehnt (Diese Erkenntnis habe ich aus dem etymologischen Wörterbuch im Internet gezogen: http://www.koeblergerhard.de/der/DERW.pdf). Damit ist gemeint, dass jeder Mensch einen eigenen Wert hat.

Mit derselben Herangehensweise an diese Wortproblematik befasst sich auch Annemarie Pieper in ihrem Eröffnungsvortrag „Menschenwürde – ein abendländisches oder ein universelles Problem“ aus der Reihe „Menschenbild und Menschenwürde“ von 2001 (vgl Pieper, 2001:19ff). In ihrem Aufsatz zieht Pieper die Definition der Bezeichnung „Eigenwert des Menschen“ der Erläuterung des Würdebegriffs vor, da sie das Wort „Wert“ problemloser untersuchen kann. Laut Pieper kann der Eigenwert eines Menschen, der seine Würde ausmacht, anhand sechs Kriterien analysiert werden:

Der Wert des Menschen ist angeboren und somit eine untrennbare Qualität des Menschseins. Dieser Wert ist weder erlernbar noch durch besondere Anstrengung erwerbbar – er steht und fällt zusammen mit dem Menschsein.

Pieper stellt des Weiteren heraus, dass der Wert jedes Menschen unteilbar ist. Jeder Mensch hat diese Qualität, sie darf/ kann niemandem abgesprochen werden. Eine Unveräußerlichkeit des Wertes führt außerdem zu der Erkenntnis, dass er nicht an eine weitere Person übertragen werden kann. Es handelt sich bei dem Wert eines Menschen um ein inneres Phänomen (wie auch die Seele ein inneres Phänomen ist), welches nie äußerlich am Körper erkennbar ist.

Bei der vierten Definition stützt sich Pieper auf Kant; sie spricht von der „Unverrechenbarkeit“ des Wertes. Er ist nicht in andere Preisklassen einzuordnen und kann nicht mit materiellen oder ökonomischen Wertobjekten verglichen werden. Das Sein jedes Menschen ist unveräußerlich mit seinem Wert gekoppelt. D.h. sein Wert ist unverlierbar.

Die fünfte Definition zeigt auf, wie schwer die Herangehensweise an den Würdebegriff ist: sie beschreibt den Wert als unableitbar. Da es keinen höherrangigen Wert gibt, als die Würde des Menschen selber, kann dieser auch nicht von einem anderen Wert abgeleitet werden. Er ist in sich konstant und stets präsent.

Die wohl bekannteste Definition des Menschenwertes, bzw. der Menschenwürde ist die Unantastbarkeit dessen. Der Wert eines Menschen ist nie in Frage zu stellen (vgl. Pieper, 2001: 19f).

Bei Betrachtung dieser Definitionsversuche fällt Folgendes auf: Fünf der sechs Kriterien sind allesamt mit einem negativen Präfix ausgestattet, dem „un-“. Hier lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der negativen Bestimmung von Menschenwürde und der via negativa erkennen. Mit der Analogienlehre der via negativia wird versucht anhand einer negativen Aussageweise die Nichtweltlichkeit Gottes zu erklären. Da die Menschen existieren, kann Gott nicht existieren, weil man Existenz nur raum- zeitlich denken kann; und Gott ist weder zeitlich noch räumlich (Die hier nur rudimentär angerissene Analogienlehre stammt aus dem Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Analogielehre#Negative_Aussageweise_.28via_negativa.29). Im Gegensatz zu den Menschen wird Gott als un-sterblich, un-endlich und un-fehlbar umschrieben. Da Gott ein so schwer zu fassendes Phänomen ist, scheint die Analogienlehre mit ihrer negativen Aussageweise die einzigen plausiblen Definitionen vorzuweisen.

Bei dem Präfix „un-„ des Wortes „unantastbar“ handelt es sich bei einer Abgrenzung der Definition von Wert zu der von Gott – laut Pieper – jedoch vielmehr um eine normative Forderung: man soll den Wert eines Menschen nicht antasten, nicht verrechnen. Jedoch streiten hier Fachleute, es heißt: Die Menschenwürde ist unantastbar. Bedeutet dies wirklich, dass man sie nicht antasten kann (d.h. es ist unmöglich die Würde eines Menschen in Frage zu stellen, die man sie nicht verlieren kann), oder dass man sie nicht antasten soll (d.h. es gibt Richtlinien, an die man sich halten muss. Wenn dies nicht der Fall ist, kann auch die Würde eines Menschen in Frage gestellt werden)?

Ganz gleich wie man sich die Frage für sich selbst beantwortet, das Christentum hat bis in die heutige Zeit das individuelle und kollektive Selbstverständnis entscheidend mitgeprägt und die ersten Definitionen des Wortes „Würde“ entwickelt. Der erste Artikel kann also nur als Erbe unserer christlichen Vorfahren gesehen werden, weshalb die Signifikanz der Annäherung an den Begriff auf der Hand zu liegen scheint.