Katholizismus in Brasilien: Die Lebendigkeit des religiösen Gefühls, Ursachen und Auswirkungen in Gesellschaft und Familie

In der Beschreibung des brasilianischen Charakters bemerkt man häufig, dass dieser von Sensibilität, Irrationalität und Religiosität geprägt ist. Die Kräfte dieses Gefühls, die stets auf die Meinungen und Verhalten des Brasilianers wirken, zerstreuen seine Interessen an sinnlichen und objektiven Bestimmungen. Um diese Aussage zu verstehen, ist es notwendig die Wurzeln Brasiliens zu kennen. Sie entstammen dem portugiesischen Teil der iberischen Halbinsel. Portugal spielte im 15. und 16. Jahrhundert bei der Etablierung neuer Handelswege und der Eroberung und Entdeckung der Länder dieser Regiong eine sehr große Rolle. Die Portugiesen gründeten Kolonien in Afrika, Amerika und Asien und sie gründeten Brasilien. Die Lebendigkeit des religiösen Gefühls in Brasilien erklärt sich daraus, dass die „Entdecker“ nicht nur im Namen der portugiesischen Krone, sondern auch in dem von der katholischen Kirche geführten Gegenreform handelten. Dieses Gefühl entwickelte sich auf unterschiedliche Weise, teils mystischer und fanatischer Art, besonders in den ärmsten Bundesländern und auf dem Land, teils dogmatischer, dessen Fall in den Großen- und Hauptstädte vorkam. Der Unterschied bestand auch in der Art, wie man die Religion behandelte, das heißt mal formal, mal zeremoniell, mal rituell.

[quote] „Die Menge folgte dem Baldachin und schloss sich dem Gebet der Priester an. In vollem Ornat, mit reuiger Miene und gefalteten Händen, ließ Pater Basílio seine tönende Stimme zum Gebet erschallen. Der fromme Mann war zu dieser wichtigen Verrichtung wegen seiner hervorragenden Tugenden ausersehen worden, die ihm Anerkennung und die Achtung aller eintrugen; im übrigen war er als Eigentümer von Ländereien und Pflanzungen selbst daran interessiert, dass der Himmel eingriff. Deshalb betete er mit verdoppeltem Nachdruck“. „Gabriela“ von Jorge Amado. [/quote]

Im Allgemeinen entfaltete sich die Religion anhand der Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse. Im Vergleich zum Beispiel mit den USA übernahm die Religion in Brasilien kein ethisches Wesen oder praktische Nützlichkeit, welche die Puritaner im Norden Amerikas einerseits auf der Grundlage der ästhetischen und zivilisatorischen Strenge und andererseits auf der Grundlage der Mobilität und der Aktivität in Bezug auf den kolonisierten Prozess durchsetzte. Freyre (Freyre: 1965.) schrieb, das brasilianische kolonisierte System sei von einer häuslichen Religion geprägt worden, quasi Verwandtschaftsverhältnisse, indem Heiligen und Mensch als Eltern und Kinder betrachtet werden könnten. Holanda (Holanda: 1995) gab ein hervorragendes  Beispiel dafür, indem er bemerkte, dass der Brasilianer, wenn er sich an die Heiligen hinwendet, für ihre Namen Verniedlichungsformen benutzen, als ob sie alte Freunde wären. Das Leben in dem „Casa Grande“ (Besitzung des Kolonisators oder des großen Farmers, wo die Zuckerrohrplantage und später die Kaffeeplantage sich entwickelten – die Zellen des Kolonialsystems) wurde immer von Taufen, Hochzeit, heiligen Feste, neuntägige Andacht, und so weiter markiert. Dieses zärtliche Verhältnis zwischen Himmel und Erde passierte nicht, wie Freyre äußerte, wenn die brasilianische Gesellschaft eine andere Art von Christentum oder sogar eine andere Religion beherrschte, nämlich die geistlicher, asketischer oder orthodoxer wäre. Die Kraft dieses religiösen Gefühls, das voll von Spontaneität und menschlichen Sympathie ist, und noch dazu die Wirkung des tropischen Klimas schufen ein depressives Volk. Das heißt das brasilianische Volk neigt sich nicht zur Empörung, ist verzichtet auf das Leben, ist zu weich und wird leicht von sinnlichen oder moralischen Verhängnisse unterdrückt. Im Grunde genommen ist dieses Volk passiv, indem es statt kämpfen sich verteidigen oder einfach aufgibt. Zwar viele Brasilianer im Laufe der Zeit autonom wurden und die Übel der Trägheit überwunden, aber die Mehrheit wartet heutzutage noch immer auf die Hilfe, die aus dem Himmel hinfallen wird, da Gott allmächtig und ein hilfsbereiter Freund (als Person betrachtet) ist.

Eine der unterschiedlichsten Eigenschaft des Brasilianers in Zusammenhang mit den anderen Völkern ist vor allem, wenn er sich zum ersten Blick an jemanden hinrichtet, seine Kindlichkeit, die seine Kraft und zugleich seine Schwäche ausmacht. Sein Mitgefühl, seine Schnelligkeit zu vergessen oder zu vergeben, seine Großzügigkeit, sein Verstoß gegen radikale Lösungen, seine Toleranz, seine Gastfreundschaft unter anderen sind Anzeichen des emotionellen Elements, von dem sein Charakter sehr tief geprägt wurde. Allerdings hat dies alles nichts mit Höflichkeit zu tun, sondern mit Herzlichkeit. Azevedo bemerkte, die Entstehung des oberen zitierten Verhalten vollziehe sich seitdem die Portugiesen ihr kolonisiertes System in Südamerika gründeten in der Mischung dreier Rassen, nämlich die der Weißen (die Portugiesen), die der Schwarzen (die Afrikaner) und die der Roten (die „Indios“). Die Mischung dreier unterschiedlicher Rassen beziehungsweise Kulturen auf demselben Gebiet kann entweder zu Krieg zwischen ihnen führen, wie man zum Beispiel bei der Kolonisation vieler Länder Afrikas wahrnimmt, oder sie befinden sich in einem friedliche Zustand, in dem Toleranz als ein natürliches und spontanes Gefühl blüht. Das letzte ist der Fall Brasiliens. Diese Bemerkung führt zu einer neuen Diskussion und zwar über den Rassismus in Brasilien, die im Moment leider nicht vertieft werden kann. Die Rassenmischung ist aber nur ein Punkt der Auseinandersetzung. Azevedo (Azevedo: 1958)  ist der Meinung, die katholischen Prinzipien spielten auch in diesem Fall eine wichtige Rolle. Mildtätigkeit, Sympathie und Brüderlichkeit prägen die Gedanken und das Handeln des Brasilianers ein. Da diese Prinzipien schon Wurzeln in der Gesellschaft haben, vermag der Brasilianer nicht, die Tradition der Herzlichkeit aufzugeben, um Revolutionen, Empörungen oder irgendeinen gewaltigen Akt gegen seine „Brüder“, mögen sie aus Brasilien oder nicht kommen, zu führen. Alle Beispiele, die die Welt gab, wie zum Beispiel die französische Revolution oder die Unabhängigkeit der USA, spiegelten auch in Brasilien wieder, aber keiner war kräftig genug, die katholischen Prinzipien zu brechen. Die widersprüchlichen Bewegungen, die in Brasilien vorkamen, wurden immer unterdrückt, beschränkt oder sofort abgeschafften.

Holanda interpretiert das Gefühl der Herzlichkeit anders. Eigentlich wurde dieser Begriff von ihm erfunden. Der Brasilianer ist freundlich, kindlich, großzügig, gastfreundlich, und so weiter, weil er im Grunde genommen eigennützig ist. Es geht aber nicht um den Charakter des Brasilianers, sondern um die soziale Struktur, die sich in Brasilien seit der Entdeckungszeit etablierte, indem der Besitz riesiges Grundstück in der Hand einer reichen Minderheit war, woraus die sozialen Unterschiede entstanden. Die brasilianische Gesellschaft organisierte sich um die Elite herum und bleibt bis heute von ihr abhängig. So entwickelte sich die „Kultur des Gefallens“ und in diesem Fall ist die Herzlichkeit wie eine Maske, die jeder in der mittleren und niedrigen Schichte der Gesellschaft trägt, um sich zu verteidigen und gleichzeitig seine Interessen zu erfüllen. Da die Elite die gesellschaftlichen Regeln diktiert, entfaltete sich in Brasilien eine problematisierte Arbeitskultur, indem nur die Bevorzugten Chancen auf den Markt haben. In dieser Richtung wird in Brasilien von Sonntag auf Sonntag gearbeitet, aber was man verdient, ist nicht genug, um die Rechnungen am Ende des Monates zu bezahlen. So werden die sozialen Unterschiede immer größer, was die Armut-, Analphabetismus- und Kriminalitätsziffer in den großen und kleinen Städten verursacht. In diesem Horizont ist es selbstverständlich, weshalb die Kinder, besonders die ärmsten, davon träumen, Fußballspieler oder Sänger zu werden.  Das ist jedoch nicht nur der Fall der Kinder, die mit einem „leichten“ und erfolgreichen Leben rechnen, sondern auch der Erwachsen. Die Rede ist hier aber nicht von Sport oder Kultur, sondern von öffentlichen Diensten, vor allem von Politik. In Brasilien betrachtet und benutzt man das politische System nicht als eine öffentliche Institution, in der man sich um die Probleme und Interesse des Landes kümmern müsste, hingegen als etwas Privates, in dem man Sorge auf die eigenen Interessen macht. Daher entsteht ein großes, vielleicht das wichtigste Problem Brasiliens, nämlich die Verwirrung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben. Das häusliche System, das auf der Grundlage jener katholischen Prinzipien sowie auf die Idee der „herzlichen Maske“ basiert, wird in den öffentlichen Bereichen wiedergegeben. Genauer gesagt, jene Samen, die der Katholizismus in der brasilianischen Familie einpflanzte, nämlich Mildtätigkeit, Brüderlichkeit, Freundlichkeit, unter anderen, sowie die daraus entstandene Kultur des Gefallens, keimen schon lange in den öffentlichen Diensten. Solange dieses Problem weiter existiert, wird die Korruption Brasilien ewig beherrschen und das Land bleibt noch unterentwickelt. Aber nicht nur das: solange die Elite sich um die gesellschaftlichen Regeln kümmert, bleibt Brasilien ein paradoxes Land, indem es ein der größten Exporteur von Lebensmittel der Welt ist, aber hat auf eigenen Boden, Leute, die noch vor Hungern sterben.

Die letzten Bemerkungen zu diesem Thema müssen im Konjunktiv geschrieben werden. Wie Freyre äußerte, wenn in Brasilien eine geistliche Religion kultiviert würde, dann wäre der brasilianische Charakter anders. Allerdings kann an dieser Stelle nicht weiter auf diese Möglichkeit eingegangen werden.

Ein Land, wo man in der Grundschule statt für das Leben für die Abitur lehrt und lernt, wo Lehrer von Schüler geschimpft und geschlagen werden, wo Fakultäten ohne Kontrolle mehr als wirtschaftlichen Unternehmen als akademischen Institutionen eröffnet werden, wo die Presse lückenhaft ist oder die Masse manipuliert, wo die Gesetze in der Praxis keine Rolle spielen, wo grausame Verbrecher freigelassen werden, wo Richter bestochen werden, wo Politiker schamlos Geld abdrängen, wo zwei Drittel der Bevölkerung unter Armut und Analphabetismus leiden, wo der soziale Unterschied riesig ist, und so weiter, braucht dringend einer Revolution, die von unten nach oben geführt wird. Die hierher gegebene Beschreibung zeigt aber, dass eine Revolution in Brasilien utopisch ist, solange der Brasilianer passiv bleibt. Viele sagen, Brasilien sei ein junges Land und es gebe Hoffnungen und Lösungen. Das ist zum Teil wahr, wenn von diesem Moment an eine zumindest kulturelle Revolution geführt wird, damit der Brasilianer die Welt nicht aus einer getäuschten Perspektive, sondern aus einer realen betrachtet. Er muss Bescheid wissen, dass ein besseres Leben nur von seiner eigenen Antriebskraft abhängt.  Nur in diesem Fall gibt es Änderungsmöglichkeiten. Diese kulturelle Revolution, oder besser gesagt, diese Bewusstmachung muss auch in dem religiösen Bereich gemacht werden.

Die Wurzel des Katholizismus in Brasilien ist keineswegs abziehbar. Die schon oben zitierten religiösen Gewohnheiten dieser Religion sollen diese Aussage beweisen. Außer ihr gibt es doch noch einen wichtigen Punkt. Nach dem Taufen, wenn die Kinder zehn Jahre alt werden, müssen sie den Katechismus besuchen. Kurz danach sind sie gefirmt. Die Auseinandersetzung besteht darin, dass die brasilianischen Kinder keine Ahnung davon haben, wozu Taufen, Katechismus und Firmung existieren. Sie nehmen sozusagen diesen Weg, weil sie von ihrer Familie mittelbar gezwungen sind. Diese weiß natürlich, was diese „Rituelle“ bedeuten, aber sie zwingt ihre Kinder, nicht wegen der Religion, sondern wegen der Tradition des Landes. In Grunde genommen hat selbst die Familie, wenn das Verallgemeinern hier erlaubt wird, auch keine Ahnung von den religiösen Zuständen.

Gegen diese feste Tradition kann man überhaupt nicht kämpfen. Dennoch müsste man zumindest die Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren, um alles besser verstehen zu können. In diesem Fall wird hier vorgeschlagen, Kurse in die Grundschule eingeführt zu werden (die nicht nur Religion, sondern auch Philosophie, Soziologie, Menschenrecht u. a. betreffen), wie es in der Vergangenheit war, die den Katholizismus weder kritisieren noch verteidigen, aber die ihn diskutieren und befragen. Daraufhin haben die Kinder die Möglichkeit, die Welt anders zu betrachten und danach, wenn sie Erwachsen werden, zu beurteilen und zu wählen, was besser für sie ist. Dieser Richtung gemäß, bleibt man doch Katholik, aber man wird daneben bemerken, dass es andere Änderungsmöglichkeiten für das Leben gibt. Mit anderen Worten soll man dafür halten, dass ein besseres oder ein schlechteres Leben nicht nur durch die Hand Gottes oder des Teufels verschafft wird, sondern auch durch seins.

 

 

Referenzen

FREYRE, Gilberto. Sklavenhaus und Herrenhütte. Übersetzung von Graf von Schoenfeldt. Kiepenheuer & Witsch, 1965.

HOLANDA, Sérgio Buarque de. Die Wurzeln Brasiliens. Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann. Suhrkamp, 1995.

AZEVEDO, Fernando. The Brazilian Culture. Introdution in the Studies of Culture in Brazil. São Paulo: Melhoramentos, 1958.