Nazim im Arrest

Als ich diese Woche einen Tag später in Hezarak eintraf, kam ich genau in ein heftiges Streitgespräch zwischen einem meiner Lehrlinge und einem graubärtigen, älteren Herren. Ich ließ mir übersetzen, dass Nazim, der Lehrling, sich weigerte (getreu unseren Absprachen) für diesen Herren während der Arbeitszeit nebenher einen Fensterflügel zu bauen. Der ältere Herr wiederum hatte Ingenieur Mir Shah 350 Afghani gegeben und erwartete dafür jetzt auch ein Fenster. Der Fensterrahmen für den Flügel, den Nazim bauen sollte, war übrigens ein Rahmen aus dem Schulneubau.

Als ich diese Woche einen Tag später in Hezarak eintraf, kam ich genau in ein heftiges Streitgespräch zwischen einem meiner Lehrlinge und einem graubärtigen, älteren Herren. Ich ließ mir übersetzen, dass Nazim, der Lehrling, sich weigerte (getreu unseren Absprachen) für diesen Herren während der Arbeitszeit nebenher einen Fensterflügel zu bauen. Der ältere Herr wiederum hatte Ingenieur Mir Shah 350 Afghani gegeben und erwartete dafür jetzt auch ein Fenster. Der Fensterrahmen für den Flügel, den Nazim bauen sollte, war übrigens ein Rahmen aus dem Schulneubau. Das stellte ich fest, als nachmittags ein Verantwortlicher aus der Schule kam, der diesen Rahmen für sich beanspruchte.

Ich bat den älteren Herren zuerst aus meiner Werkstatt. Dann erklärte ich ihm, dass ich darüber entscheiden würde, was Nazim während der Arbeitszeit baut und dass er deswegen nicht mit Nazim streiten solle. Darauf ließ ich mir von Nazim erklären, dass er sich Said Machmat und Mir Shah gegenüber bereit erklärt hätte, nach der Arbeitszeit diesen Flügel zu bauen.

Der ältere Herr kam allerdings von einem Ort etwa 2,5 Stunden Fußweg weit entfernt und wollte das Fenster natürlich gerne jetzt mitnehmen und nicht noch einmal wieder kommen. Ich entschloss mich, darüber (vor allem auch, wo jetzt die 350 Afghani sind) mit Mir Shah zu reden und fragte Nazim (ohne dem Beisein des älteren Herren, der uns erst neugierig folgen wollte), ob er diesen Flügel bauen wolle oder nicht. Als er meinte: „Mit Ihrer Erlaubnis baue ich das gerne“, ließ ich ihn den Flügel auch während der Arbeitzeit bauen. Irgendwann erwischte ich den guten Herren dabei, wie er sich wieder mit Nazim zankte, diesmal meinte er, Nazim solle schneller arbeiten.

So energisch, dass Sadat es erst nicht übersetzen wollte, erklärte ich, dass Nazim mein bester Lehrling sei und so schnell arbeiten würde, wie er könne. Und dass ich nicht mehr wolle, dass er weiter mit ihm spricht. Nazim war etwas krank und ich hatte wegen dieser ganzen Geschichte ein sehr blödes Gefühl ihm gegenüber. Ich wusste nicht, ob er richtig verstanden hatte, dass ich dem Herren ohne Weiteres gesagt hätte, dass ich es verbiete, dass er, Nazim, das Fenster baut, wenn er nicht gewollt hätte. Und ich wusste nicht, ob er jetzt denkt, dass ich an diesem System der illegalen Beschaffung und Unterschlagung teilhabe. Irgendetwas beunruhigte mich an ihm.

Gegen Nachmittag zog der alte Herr los, zu Fuß mit dem großen Fenster auf dem Rücken, durch die karge Lehm- und Steinwüste. Am nächsten Tag war Nazim nicht da. Einige meinten, er sei krank. Vormittags kam sein Bruder und fragte, ob Nazim bei uns sei. Als er wieder weg war, meinten einige Lehrlinge, Nazim habe öfter davon gesprochen, dass er nach Pakistan wolle, wenn er den nächsten Lohn bekäme (den hatte ich den Tag zuvor ausgezahlt). Und dann hieß es, er sei im Gefängnis vom Wuluswal (dem Distriktfürsten), also in unmittelbarer Nachbarschaft.

Als Said, einer der Lehrlinge, mich fragte, ob er vielleicht Nazim besuchen dürfe, fühlte ich mich selbst gefordert. Ich bin zu Mir Wais, dem ‚Community Mobilizer’ (was auch immer das ist) und fragte, ob er mit mir Nazim besuchen könne. Der war wenig begeistert. Zum Glück stand Samea dabei, der mir zur Hilfe eilte. Am späten Nachmittag fuhren wir also zu viert zum Wuluswal. Der residiert auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände inmitten einer Ansammlung von Containern, einem längerem Lehmbau und einer Ruine, im Hof eine Wasserpumpe.

Manchmal habe ich dort schon etwa 20 Soldaten exerzieren gesehen, in dieser dunkelgrün/grauen Uniform. Jetzt sind dort nur ein Haufen Männer in der Afghanentracht, immer wieder kommen Neue dazu.

Samea und Mir Wais reden mit ihnen, alle sind freundlich, aber es passiert nichts, mir übersetzt auch keiner. Die Begrüßung ist übrigens gewöhnungsbedürftig: Mit der einen Hand ziehen sie mich zu sich heran, als wollten sie mich umarmen, mit der anderen Hand stoßen sie mich recht unsanft plötzlich wieder ab. Wahrscheinlich im Krieg gelernt.

Nach einer Weile kommt der Wuluswal aus einer der Türen und in seinem Gefolge auch Nazim. Ich bin total erleichtert, ihn unversehrt zu sehen. Zuerst gibt es ein längeres Palaver mit dem Distrikt-Herren und Samea sagt irgendwann zu mir: “Jetzt musst Du etwas sagen!“ Auch nicht so einfach, wenn ich vorher gar nichts verstanden habe. Samea erklärt mir deshalb, Nazim hätte nachts die Soldaten-Polizisten mit einer Taschenlampe angeleuchtet und Blinkzeichen gegeben. Da hätten sie ihn mitgenommen und wollten ihn eigentlich fünf Tage einsperren. Aber weil ich gekommen wäre und auch seine Verwandten eine Garantie für ihn gegeben hätten, könne er jetzt gehen. Ich bedanke mich artig, aber viel mehr fällt mir auch nicht ein.

Ein Teil der Herren zieht ab, es sind Nazims Verwandten. Er selbst bleibt noch bei uns stehen, in meiner Nähe, aber als wir dann auch gehen, schließt er sich seinen Verwandten an. Samea erklärt mir, dass sie den Wuluswal samt Begleiter zum Abendessen eingeladen haben. Sozusagen als Bezahlung seiner freundlichen Entscheidung.

Spät abends kommen sie dann auch. Vier Herren mit schwarzgefärbten Bart, etwa in meinem Alter, alle für afghanische Verhältnisse eher etwas rundlich. Angezogen mit der Afghanentracht, darüber die Decke (die wird halb über die Schulter gelegt, halb um den Leib geschlungen) und auf dem Kopf haben sie alle die braune Mujaheddin- Mütze: Oben eine flache Scheibe, darunter Mützenstoff zu einem Kreis aufgerollt. Sitzen im Schneidersitz auf den Ehrenplätzen gegenüber der Tür und später, nach dem Essen (das natürlich mit der Hand gegessen und mit vielerlei Geräuschen begleitet wird) lümmeln sie sich gegen die zahlreichen Decken und Kissen. Sie wollen auch gar nicht mehr gehen, sondern erzählen sehr viel.

Hermid ist später aufgebracht: „Die haben sich damit gebrüstet, dass sie Hazara misshandelt haben (die Anhänger Sayyaf’s haben sich besonders mit den Hazara bekriegt), wie sie Menschen erschossen haben, sind über die Kabuler Frauen (meine Frau!) hergezogen, sie seien alle ‚sexuell’ (was auch immer das heißen mag).“ Samea widerspricht ihm: Sie hätten nicht damit geprahlt, Hazara misshandelt zu haben. Der Wuluswal hätte erzählt, als er einmal im Lazarett gewesen sei, hätte ein ebenfalls verwundeter Paschtune erzählt, er sei von Hazara angefallen worden. Aber Hermid hat es anders gehört.

Als ich ins Bett gehen will, entdecke ich gerade einen der Wächter, wie er mit der Taschenlampe in unser Klassenzimmer leuchtet. „Nazim schläft dort“, meint er. Oh je, denke ich. Ich gehe wieder zurück zu den Ingenieuren und berichte davon. Erst ist die einhellige Meinung, dass er sofort den Hof verlassen muss. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, wer weiß, was er nachts anstellt.

Ich gebe zu Bedenken, dass er, falls er wirklich psychisch krank ist, sicher nicht nach Hause gehen wird. Vielleicht wird er dort geschlagen? Und dann hat er nur drei Möglichkeiten: Draußen schlafen, wieder Ärger mit der Polizei oder er lebt morgen nicht mehr. Wir beschließen, dass er bei den Wächtern schlafen soll, die sowieso Wache halten müssen. Dass ich morgen allen Lehrlingen verbiete, nach 19.00 Uhr noch auf dem Gelände zu sein, andernfalls fristlose Kündigung. Morgens erzählt Nazim mir, dass er bei einem Freund war, der bald heiratet. Nachts ist er zum Pissen rausgegangen und da wären zwei Autos gekommen. Weil er dachte, dass die auch zu seinem Freund wollten, habe er ihnen mit der Taschenlampe Blinkzeichen gegeben. Aber es waren leider Polizeiautos gewesen. Er habe sie eingeladen, mit zu feiern, weil er die meisten auch kannte, aber leider wären Neue dabei gewesen, Freunde des ebenfalls neuen Wuluswal. Die hätten darauf bestanden, ihn einzusperren, in einen kalten Container. Nach einer halben Stunde hätten seine Bekannten ihn aber in die Wachstube geholt.

Er war schon einmal eine Woche eingesperrt gewesen, weil er Mädchen beim Wasserholen über eine Mauer beobachtet hatte. Später höre ich, dass er in eines dieser Mädchen verliebt ist und diese Liebe auch erwidert würde. Der Vater des Mädchen will ihn aber nicht, und wird seine Tochter an jemanden anderen verheiraten.

11. März