Wandern auf dem Land in Afghanistan

Immer wieder bin ich von meinem Übersetzer und den Auszubildenden zum Tee oder zum Essen eingeladen worden. Ich hatte sie immer wieder vertröstet, vor allem mit dem Argument, zuerst wolle ich alle einladen. Das hatte ich ja nun getan und nach Rücksprache mit den Leuten vom Büro war es denn soweit: In der Woche vor Aid (einem der hohen islamischen Feiertage) an einem schönen, klaren, warmen Tag zog ich mit einer Eskorte von sieben Leuten über die wüstenähnliche Ebene los zu den Bergen am Horizont.

Immer wieder bin ich von meinem Übersetzer und den Auszubildenden zum Tee oder zum Essen eingeladen worden. Ich hatte sie immer wieder vertröstet, vor allem mit dem Argument, zuerst wolle ich alle einladen. Das hatte ich ja nun getan und nach Rücksprache mit den Leuten vom Büro war es denn soweit: In der Woche vor Aid (einem der hohen islamischen Feiertage) an einem schönen, klaren, warmen Tag zog ich mit einer Eskorte von sieben Leuten über die wüstenähnliche Ebene los zu den Bergen am Horizont.

Mir Shah, Hermid und Mir Wais waren mitgekommen, die dreie, die mir am Anfang beim Ausbau geholfen hatten, Alisardar, Said und Sher Sar, und außerdem natürlich Sadat, dessen Einladung ich nun folgte. Auf meinen Wunsch hin gingen wir zu Fuß, allerdings war mir auch zu Hilfe gekommen, dass es im Moment kein Auto gab.

Schon der Anfang war für mich beeindruckend, wie ein junger Wiesel rannte ich vor und zurück, und vor allem zu den Seiten hin, wo es immer wieder tiefe Erosionsrinnen oder auch richtige Täler zu fotografieren gab. Besonders zur Rechten des Weges tauchte ein Tal auf, unten am Boden ein wenig grün, steil aufsteigende Hänge, die am oberen Rand oft bebaut waren mit Häusern aus einer anderen Welt. Eigentlich Burgen, mit Höhlen unter den Wohnungen, ineinander verschachtelt, zur Mitte hin sich selbst hochschaukelnd, wie diese Bergstädte in der Toskana. Unterhalb von ihnen, an den steilen Hang gebaut, Mauern, oft auch nur die Reste der Mauern, die eigentlich Gärten einfrieden. Jetzt aber fast alles kahl und braun, wie überall hier. An einer Stelle ist auf der unsrigen Seite des Tales eine zweite Fläche auf halber Höhe, umfangreiche Bauarbeiten sind da angedeutet, bis jetzt sieht man nur die Grundsteine, die eine enorme Fläche einfassen.

Hermid erzählt mir leise, das seien Bauplanungen von dem Stellvertreter des Fundamentalisten Sayyaf, der hier im Gebiet aufgewachsen ist, und dessen Anhänger deshalb hier sehr zahlreich sind. Sayyaf ist der vermutliche Hintermann des Handgranatenanschlages auf eine Hochzeitsgesellschaft im Sommer, bei der zwei Musiker starben. Ihm gefiel die Art der Musik nicht. Sayyaf arbeitet derzeit mit der Übergangsregierung zusammen, oder besser, nicht gegen sie, ist einer der ganz reichen Afghanen (ihm gehört zum Beispiel der Grund und Boden auf dem der ausgedehnte Großmarkt für Gemüse gebaut ist) und ihm wird nachgesagt, dass er gegenwärtig Kontakt zu Hektmatyar sucht.

Nach einiger Zeit kommen wir in Karam an, ich bin doch etwas müde geworden und glaube, dass wir jetzt nur noch das Haus von Sadat suchen müssen. Karam sei eine sehr alte Siedlung, auch wenn die jetzt bewohnten Häuser (wenn sie denn überhaupt älter als der Krieg sind) kaum je 50 Jahre alt sind. Früher war sie mehrheitlich oder ausschließlich von Tadjiken besiedelt, eine kleine Dari- Sprachinsel in einem Paschtunen- Gebiet. Je nachdem, wen man fragt, wird das auch durchaus abgestritten oder zumindest so kommentiert, als sei das eine ganz neue Information.

Der Ort selbst ist sehr ausgedehnt und wir laufen bestimmt anderthalb Kilometer durch ständig wechselnde Ortsansichten, anders jedenfalls als durch die normalerweise vorherrschenden engen Gassen zwischen hohen Lehmwänden in den anderen Orten oder Kabul. Hier gibt es plötzlich kleine Täler, in denen es grüne Felder gibt (wahrscheinlich Winterweizen) und große Freiflächen, die aussehen wie ein germanischer Thingplatz. Aus einer halboffenen Lehmhütte schauen uns unzählige Mädchen an: die örtliche Mädchenschule. Fotografieren soll ich die besser nicht.

Das Haus eines meiner Schüler, der aber nicht mitwandert, steht am Rande der Hochfläche, zum steil abfallenden Tal hin, das uns die ganze Zeit zu unserer Rechten begleitet hat. Eine der öffentlichen Wasserpumpen ist im Vordergrund, seine Kinder pumpen gerade Wasser. Die Hütte im Hintergrund ist ohne Einfriedung, wie einige der Häuser hier. Seine Frau wäscht gerade und aus Versehen fotografiere ich sie mit. In einer Paschtunen- Siedlung hätte ich sie auf gar keinen Fall zu Gesicht bekommen.

Weit in der Ferne zeigt mir Said sein Haus: Eine wirkliche Festung, riesig, Wehrtürme an allen vier Ecken. Hier wohnt er mit seiner ganzen Großfamilie, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, seinen Eltern und Großeltern. Er will ja gerne mit mir nach Europa, weil nur in Europa, wurde ihm gesagt, können sie ihm die Metallsplitter, Überreste einer Mine, aus den Knochen holen. Ob du weißt, was dir bevorsteht? , denke ich. Aber sie haben ja alle schon heftige Kulturbrüche hinter sich, wechselnde Regierungen mit völlig anderem kulturellen Hintergrund, die Flucht (oder mehrere) nach Pakistan…

Dann machen wir mitten im Ort einen Schwenk nach links, steigen in ein kleines Tal hinab und ich kann die Kellergewölbe oder besser Höhlen unter den Häusern aus der Nähe besichtigen. Hermid meint: „Vor hundert Jahren haben sie selbst in den Höhlen gewohnt, jetzt ist es nur noch ihr Vieh. Das ist der ganze Fortschritt in den hundert Jahren gewesen.“ Nun werden die Häuser spärlicher, es gibt ein vor einiger Zeit abgeerntetes Maisfeld, der Boden hier ist überall sehr, sehr fruchtbar. Wenn es nur regnen würde.

Eine Obstplantage sehe ich, es sind Aprikosenbäume. Und überall die kleinen Wasserrinnen ohne Wasser, mit deren Hilfe das Wasser kilometerweit auf die Felder geführt wird. Neben jedem Feld eine Unterbrechung in den Rinnenwänden, mit Erde und oder Steinen zugemacht. Und dann wird’s richtig schön: Erst höre ich es nur und dann sehe ich den Wasserlauf auch schon: Er ist richtig einbetoniert, mit Öffnungen nach links und rechts alle paar Meter, es sieht sehr professionell aus. Ob das auch NGE gebaut hat, frage ich. Nein, das war ISAF, ist die Antowort.

Dann vor uns eine Burganlage, deren Sinn ich nicht erfahren kann. Es sieht aus wie der Kirchhügel in irgendeinem norddeutschen Dorf, aber es ist keine Moschee dort gebaut. Auf dem Gebäude weht eine afghanische Flagge, aber ein Militärstützpunkt ist es auch nicht. Es sieht einfach nur sehr spannend aus. Wir folgen dem Wasserlauf und schon alleine das sprudelnde Wasser zu hören in der Mittagssonne und all der Dürre ringsumher, tut mir gut.

Dann, um eine Biegung, wird es fast grün, jedenfalls viele Bäume, es ist viel kleinräumiger als sonst hier, und einfach schön. Wenn ich mich umdrehe, liegt die weite Ebene mit ihren vielen Dörfern zu meinen Füssen. Die Dörfer, außer Karam direkt vor uns und Mundul in der Mitte dieser Ebene am Rande des tief eingefrästen Tales, alle in weiter Ferne am Rande dieses grossen Beckens. Und zwischen den Bäumen kommen mir auch schon zwei Afghanen entgegen: Herzlich willkommen.

Dann wird es ‚normal’: Wir werden in einen kahlen Raum gebeten, Sitzkissen auf dem Boden, die Frauen alle weggesperrt, nur ein Korb, von der Decke aufgehängt, mit einem schreienden Säugling darinnen haben sie noch vergessen. Der ist aber auch bald entfernt. Sadats Vater wieder einer dieser würdevollen Greise mit langem Bart und Turban. Sadat ist der zweitjüngste der Brüder. Über die Schwestern wird nicht geredet.

Ein Schwager, ein Bruder und natürlich Sadat selbst bringen das Essen: Gut, vielfältig und eine unglaubliche Menge. Viel Obst, Salat und natürlich Fleisch. Vorher eine Weile Smalltalk der afghanischen Art: Das Befinden aller Beteiligten einschließlich der männlichen weiteren Verwandten, Berichte über zurückliegende Besuche und natürlich alles, was irgendjemand über die besondere Freundschaft zwischen den beiden ‚arischen’ Völkern aus Deutschland und Afghanistan weiß.

Meine drei Auszubildenden schlagen kräftig zu: Es ist ausdrücklich erlaubt, viel zu essen. Allerdings muss genug übrig bleiben, denn die Reste werden von den Frauen und Kindern des Hauses sehnsüchtig erwartet. Für die Kinder war übrigens auch mein Gastgeschenk: Bonbons. Geschenke für den Herren des Hauses wären unter Umständen beschämend gewesen, wurde mir gesagt. Bezahlen werde ich dieses Essen indirekt aber doch, über ein Geldgeschenk zum Aid-Fest an meinen Übersetzer.

Nach dem Essen startet Mir Wais, der uns die ganze Zeit immer wieder mit seinem Funkgerät ‚abgesichert’ hat, einen Versuch, doch noch ein Auto zu bekommen. Zum Glück gelingt ihm das erst nicht. Eine Weile geht es darum, wo und wie das vorgeschriebene Mittagsgebet gemacht wird, eine Unterhaltung, der ich nur teilweise folgen kann. Ich glaube, die, die eher keine Lust dazu haben, setzen sich durch mit der Behauptung, sie würden ‚unterwegs’ beten.

Dann verlassen wir das Haus mit seinen zwei Räumen. In der letzten Zeit wohnt meist nur noch der Vater darin, der eine Stelle als Vorbeter in der Moschee hat und etwa 5oo Afghani verdient, also 11 Euro. Der Rest der Familie wohnt in Kabul, dort haben sie noch ein Haus, vielleicht nur gemietet. Gegenüber der jetzigen Wohnung ist das alte Haus: sehr viel größer, aber kriegszerstört. Direkt neben dem Anwesen gibt es gar einen wunderschönen Teich. In der warmen Sonne hätte ich nicht übel Lust, mich direkt auszuziehen und hineinzuspringen. Ich glaube, alleine der Gedanke ist schon verboten.

Sadat erklärt, dass dieser Teich 7 Meter tief ist und 9 Meter im Durchmesser. Ein Bombentrichter der Russen, die hier besonders gehasst werden, weil sie sehr viel oder fast alles zerstört haben, im Bestreben, Hektmatyar von hier zu vertreiben. Und der konnte sich gut wehren, weil er Geld hatte. Viel Geld. 70% der geheimen US-Gelder gegen die Russen bekam er. Vor dem 1. Golfkrieg, danach mochten ihn die Amis nicht mehr, weil er sich auf Seiten von Saddam gestellt hatte.Alles alte Geschichten, aber hier ist er noch ein Held, der Schlächter Hektmatyar, der seinen Krieg nun aus den Bergen von Nuristan führen soll (sagt man), nördlich von Jallalabad, diesmal gegen die Amis. Und hier direkt vor meinen Füssen, ein Überbleibsel dieser alten Geschichten. Ein schöner Teich ist es geworden und die vielen Leichen noch lange nicht vergessen.

Nach und nach verabschieden sich Sadat, dann Alisardar und Said von uns. Wieder zurück zu gehen nach Mundul würde sich für sie nicht lohnen. Und ich beiße mir in die Unterlippe vor Wut, weil ich nur zwei Filme mitgenommen habe, als wir nun umkehren und ich die ganze Zeit dieses herrliche Panorama vor mir sehe, ohne später damit angeben zu können: Da bin ich gewesen! Auf halben Wege von zu Hause holt uns dann leider doch noch das Auto ab und bald bin ich wieder in meinem goldenen Käfig.

5. Februar