Wasserlos waschen auf welkem Gras – zur Habermas-Ratzinger-Debatte

„Die Demokratie setzt die Vernunft im Volk voraus, die sie erst hervorbringen muss!“ Karl Jaspers

„Im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe“ GAUDIUM ET SPES

Zu Beginn des Jahres 2004 trafen der Hausphilosoph der Bundesrepublik Deutschland, Jürgen Habermas, und der spätere Papst Benedikt XVI, damals noch Kardinal Ratzinger, zusammen für eine Disputation über die „Vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Staates“. Obwohl die unterschiedlichen politischen, philosophischen und nicht zuletzt biographischen Hintergründe der Disputanden durchaus Anlass geboten hätten, blieb eine Fortsetzung der hergebrachten Grabenkriege zwischen konservativem Katholizismus und säkularer, linker Gesellschaftstheorie aus. Beobachter und Kommentatoren der Debatte stellten vor allem Überschneidungen und Verbindlichkeiten zwischen den beiden Vorträgen heraus und beschworen das neue Klima der Annäherung und gegenseitigen Befruchtung zwischen den Vertretern von Glaube und Ratio. Im folgenden Beitrag soll die Debatte einer kritischen Untersuchung unterzogen werden. Zum einen soll beleuchtet werden, wie weit die propagierte Einmütigkeit tatsächlich trägt, bzw. welche Grenzen der Annäherung schon aus den Vorträgen selbst erlesbar ist. Dort wo sich tatsächlich ein kleinster gemeinsamer Nenner ausmachen lässt, soll dieser zunächst von beiden Innenperspektiven her und dann mit Blick auf eine ideale demokratische polis auf seine Tauglichkeit untersucht werden. Den Abschluss bildet ein Verweiß auf eine echte gegenseitige Befruchtung mit dem urchristlichen Gesellschaftsmodell als Blaupause.

Die Debatte kurz skizziert

Als Ausgangsfrage gab der gastgebende katholische Akademiedirektor in Bayern zwei Fragen vor: „Wie eine sich selbst als plural verstehende Gesellschaft gemeinsame Ligaturen, […], erkennen und anerkennen kann und soll. Und, […], wie Glaubende ihre von Transzendenz her sich begründende und verstehende Existenz in dieses gesellschaftliche Erkennen und Anerkennen einbringen können und sollen“. Der Beginn und Kernpunkt der Habermasschen Ausführungen ist die sog. Böckenförde Frage1, „ob der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann“. Zunächst räumt er ein mögliches Missverständnisse aus dem Weg: es geht ihm weder darum, ein prä-modernes, monarchisches Verständnis von Rechtssetzung wieder einzuführen – ein Gottesgnadentum von Herrschaft und Gesetz. Die Rechtsgebungsprozesse des demokratischen Staates tragen ihre Legitimation in sich selber und im Prozess ihres Zustandekommens. Es gäbe kein Geltungsdefizit das durch Sittlichkeit aufgefüllt werden müsse. Das passive Erdulden von Freiheitsbeschneidungen jedweder Art durch Gesetze ist durch die demokratische Art ihres Zustandekommens gewährleistet. Was allerdings nicht gewährleistet sei, ist die aktive Mitarbeit am Gesetz- und Rechtsgebungsverfahren. So könnte auch von außen das Zusammenleben aller in Gefahr geraten, wenn etwa „eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft das demokratische Band müde machen und die Art von Solidarität auszehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist“. Wo Markt und Bürokratie ausufern fürchtet Habermas den vereinzelten, nomadenhaft selbstinteressiert handelnden, seine Rechte wie Waffen gebrauchenden Bürger, der es am Willen zum aktiven Mitgestalten und Solidarität mit seinesgleichen missen lässt.

Es folgt ein Exkurs über die historisch geschehene gegenseitige Befruchtung von christlichem Glauben und abendländischer Philosophie im entdecken ihres jeweils Anderen sowie dem Verweiß auf deren erneute Notwendigkeit. Dabei diagnostiziert er bereits erfolgte Verschränkungen, wie etwa die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit in die säkulare Figur der Würde des Menschen. Darüber hinaus aber würdigt er die praktische Ausformung eines Gemeinschaftslebens im Glauben.

[quote] Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindlicher Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeit und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge. [/quote]

Mit diesen Quellen von Normbewusstsein, gesellschaftlicher Integration und Solidarität schonend umzugehen, muss ein Anliegen des säkularen Staates sein. Abschließend schreibt Habermas allen seinen Vertretern ins Stammbuch, dass sie diesen Wert von religiös motivierten Gestaltungsbeiträgen anerkennen müssen und darüber hinaus aktiv beim Übersetzungs- und Verwertungsprozess für gesellschaftliche Debatten behilflich sein müssten. Anknüpfend an den eingetretenen Verlust ihrer alleinigen Deutungshoheit, erwartet er aber auch von den Vertretern religiöser Gemeinschaften nichts weniger, als das „Andocken“ einer egalitären Gesellschaftsmoral und universalistischen Rechtsordnung an ihr eigenes Gemeindeethos. Ratzinger setzt mit drei Prämissen an: Zum einen habe sich im 20. Jahrhundert eine umfassende Weltgesellschaft herausgebildet; mit ihr zusammen haben sich enorme Möglichkeiten von „Macht des Machens und des Zerstörens“ entwickelt; drittens bleibe trotzdem die Frage nach einer universellen Begründung für ethisches Verhalten letztlich ungelöst. Im Weiteren überfliegt Ratzinger einige mögliche Quellen aus denen eine solche hervorgehen könne, kritisiert jedoch eine nach der anderen als unzulänglich: Wissenschaft sei am Zerbrechen alter moralischer Gewissheiten beteiligt gewesen und sei mit ihrem verkürzten Menschenbild gar nicht in der Lage solche aus sich zu generieren. Er gesteht der Politik zu, dass sie mit der Entwicklung von Demokratien zumindest die Ausübung von Macht und Gewalt unter das Primat eines gemeinsam bejahten Rechts gestellt habe. Allerdings sei Demokratie schon durch die ihr inneliegende Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit und den historisch verbrieften Irrtümern von Mehrheitsbeschlüssen diskreditiert. Weiter blickt er Angst, Furcht und schieren Terror als Quelle moralischer Entwicklung, wie es etwa in Reaktion auf die Weltmächte und den Kalten Krieg vorgekommen sei. Im nächsten Abschnitt baut Ratzinger einen Chiasmus auf, indem er zum ersten mal Religion als mögliche heilende Macht ins Spiel bringt, nur um ihr, z.B. wegen ihrer Funktion als Inspiration für terroristisch agierenden Fundamentalismus, die Ratio als notwendige Bewacherin an die Seite zu stellen. Die Verlässlichkeit letzterer sei aber wiederum scharf in Zweifel zu ziehen angesichts ihrer moralisch blinden Endauswüchsen wie Atomwaffen oder der zunehmenden Kommodifikation des Menschen und seiner Erbsubstanz. Der folgende lange Abschnitt rekuriert auf das von der katholischen Kirche nach wie vor favorisierte Modell des Naturrechts, welches auf einem angenommenen Ineinsfallen von Natur und Vernunft, sowie der Ablesbarkeit von bestimmten Rechtsgütern direkt aus den Gegebenheiten der Natur ausgeht.

[quote] Dies Naturrecht ist – besonders in der katholischen Kirche – die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber dieses Instrument ist leider stumpf geworden, und ich möchte mich daher in diesem Gespräch nicht darauf stützen. [/quote]

In der anschließenden Diskussion hat Ratzinger dann allerdings die insinuierte Zurückstufung des zentralen Naturrechtsgedanken wieder relativiert. Die Sache des Naturrechts „wolle er durchaus verteidigen, wenn auch unter vielleicht einstweiligem Verzicht auf den Begriff Natur im Sinne von Substanz.“2 Als letztes Überbleibsel des Naturrechts identifiziert Ratzinger die Menschenrechte. Allerdings sollten diese „um eine Lehre von den Pflichten des Menschen und von seinen Grenzen erweitert werden, und das könnte nun doch die Frage erneuern helfen, ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben.“ Eine solche Neuerschaffung des Naturrechts könne allerdings nur in Abstimmung mit anderen Kulturkreisen geschehen. Diese interkulturelle und interreligiöse Begegnung macht Ratzinger im folgenden Abschnitt besonders stark und spricht im Zuge dessen beiden Wurzeln abendländischer Kultur, christlichem Glauben und säkularer Rationalität, einen universellen Anspruch gänzlich ab. Die beiden zueinander stehen zueinander laut Ratzinger in einer notwendigen Korrelation der gegenseitigen Korrektur, Reinigung und Heilung. Dieser Zusammenwirken, Glaube und Ratio vereint plus interkulturellem Kontext, könne dazu führen, „dass die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält“.

Der Debatten-Nachhall

Es liegt in der Natur der vom Veranstalter gewählten Diskussionsform, je ein Vortrag ohne inhaltliche Vorgabe zu einem relativ weiten Thema, dass, vielleicht mit gutem Grund, die Beiträge nur sehr bedingt aufeinander eingehen und in ihren Ergebnissen vergleichbar sind. Keiner der beiden Texte erfüllt auch nur annähernd die Funktion einer befriedigenden Antwort auf die Aussagen, Fragen und Vorschläge des Anderen. Deshalb möchte ich noch zwei weitere Texte heranziehen, die wenigstens teilweise als Reaktion der Teilnehmer auf das vom anderen in der Akademie Gesagte gesehen werden können.

[quote] Jürgen Habermas: "Wann müssen wir tolerant sein? Über die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theorien", Festvortrag zum Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 29. Juni 2002. S. 1f. [/quote]

In seiner ersten öffentlichen Rede nach der Debatte, stellt Habermas wieder eher die Konkurrenz zwischen den beiden Weltanschauungen, Glauben und Wissenschaft, in den Vordergrund. Er scheint sich dabei auch indirekt auf die Begegnung mit Ratzinger zu beziehen, wenn er allgemein von den theorievergleichenden Diskussionen spricht.

[quote] „Den theorievergleichenden Diskussionen können wir jene Dispute zur Seite stellen, die bei Gelegenheit interreligiöser oder interkonfessioneller Begegnungen stattfinden. Beide Diskurse lassen sich unter idealen Voraussetzungen sogar als kooperative Wahrheitssuche beschreiben. Aber Wissenschaftler unterschieden sich von Theologen in diesem Bemühen sowohl durch ein fallibilistisches Bewusstsein wie durch die – jedenfalls unmittelbar – fehlende Relevanz ihres Wissens für ethische Handlungsorientierungen. In idealtypischer Vereinfachung verstehen sich Wissenschaftler als Teilnehmer eines kollektiven Lernprozesses. Sie gehen davon aus, dass sie an Problemen arbeiten, die in der Regel eine überzeugende, wenn auch grundsätzlich kritisierbare Lösung zulassen. Sie sind auf der Suche nach unentdeckten, für uns noch in der Zukunft liegenden Wahrheiten. Theologen verstehen sich hingegen als Interpreten einer in der Vergangenheit offenbar gemachten, nicht revisionsfähigen Wahrheit, die sich gegen konkurrierende Glaubenswahrheiten mit guten Gründen verteidigen lässt. Freilich rechnen sie beim Interpretationsstreit verschiedener Religionen nicht mit der Möglichkeit, die Art von Evidenzen und Gründen anzuführen, die Opponenten, wenn auch nur vorübergehend, zur Zustimmung zu einer einstweilen rational akzeptablen Aussage bewegen könnten. Sie erwarten vielmehr einen finalen Konsens, der von der Ausbreitung einer schon zugänglichen Wahrheit abhängt. Am jüngsten Tage soll sich herausstellen wird, welches der echte Ring ist.“ ebd., S. 4. [/quote]

Dabei fällt auf, dass er hierbei vor allem wieder die unterschiedliche Hermeneutik von Wissenschaft und Glaubenslehre betont. Zwar gibt er die Viabilität beider Wege, des auf die Zukunft gewandten Wahrheitssucher und des Ableiten von im Zeitlichen Verwendbaren aus ewigen Wahrheiten; damit ist aber auch wieder die Trennlinie zwischen beiden genau nachgezogen. Von der vorher beschworenen Gemeinsamkeit und gegenseitigen Befruchtung in der Geschichte ist nichts mehr zu hören. Dafür wird der Verlust des religiösen Deutungsmonopol im säkularen Gesellschaftszusammenhang und die sich daraus ergebende zwingend notwendige Aufnahme von Menschenrechten in das religiöse Dogma noch erweitert und verschärft.

[quote] „Jede Religion ist ursprünglich "Weltbild" oder, wie John Rawls sagt, "comprehensive doctrine" auch in dem Sinne, dass sie die Autorität beansprucht, eine Lebensform im ganzen zu strukturieren. Diesen Anspruch auf umfassende
Lebensgestaltung muss eine Religion aufgeben, sobald sich in pluralistischen Gesellschaften das Leben der
religiösen Gemeinde vom Leben des größeren politischen Gemeinwesens differenziert. […] Die großen Religionen
müssen sich die normativen Grundlagen des liberalen Staates selbst dann noch einmal unter eigenen Prämissen
aneignen, wenn – wie im europäischen Falle der jüdisch-christlichen Überlieferung – zwischen beiden ein
genealogischer Zusammenhang besteht.“ ebd., S. 6.
[/quote]

Zum Beispiel fordert er, dass sich die unterschiedlichen Wertvorstellungen nicht nur angleichen, sondern die einen sollen aus den anderen ausnahmslos hervorgehen. Von einem einseitigen Ausschöpfen der religiösen Wertequelle von den Nomaden der säkularen Ethikwüste kann keine Rede sein. Vor allem das Defizit der Kirchen was das Andocken, bzw. Unterordnen von Dogma unter Menschenrechte angeht wird klar benannt.

[quote] „Das soziale Band, welches Gläubige mit Andersgläubigen und Ungläubigen als Mitgliedern derselben säkularen Gesellschaft verbindet, soll nicht reißen. Aber die erforderliche Rollendifferenzierung zwischen Gemeindemitglied und Gesellschaftsbürger muss aus der Sicht der Religion selbst überzeugend begründet werden, wenn nicht Loyalitätskonflikte weiter schwelen sollen. Die religiöse Vergemeinschaftung ist auf die säkulare erst dann abgestimmt, wenn sich auch aus der Binnensicht die beiden korrespondierenden Sätze von Normen und Wertorientierungen nicht nur voneinander differenzieren, sondern wenn die einen aus den anderen konsistent hervorgehen. […] Sie verlangt die kognitive Ausdifferenzierung der in der demokratischen Verfassung festgeschriebenen Gesellschaftsmoral aus dem Gemeindeethos. Das macht in vielen Fällen die Revision von Vorstellungen und Vorschriften nötig, die sich – wie beispielsweise im Falle der dogmatischen Verurteilung von Homosexualität – auf eine lange Auslegungstradition heiliger Schriften stützen.“ ebd., S. 7. [/quote]

Eher sollen also Flüsse der Aufklärung noch so manche verstaubte Wurzeln im alten Garten des Glaubens hinwegspülen. Viel interessanter ist allerdings ein Blick in eines der letzten von Ratzinger erschienen Dokumente – diesmal allerdings bereits als Papst Benedikt: die Enzyklika DEUS CARITAS EST. In seinen Ausführungen über die aktive Liebe der Christen in der Welt beleuchtet er auch die Frage nach einer gerechten Weltordnung, und er äußert sich ausführlich über die Beziehung von säkularer Vernunft und Glauben im Bezug auf Gesellschaftsordnung. Zunächst wiederholt er noch einmal, dass im Bereich des Rechts und seiner Kodifizierung zunächst die weltliche Vernunft das Primat haben, allerdings nur unterstütz durch einen Glauben, der die Vernunft vor ihren eigenen Auswüchsen bewahrt.

[quote] „An dieser Stelle berühren sich Politik und Glaube. Der Glaube hat gewiss sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott – eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen. Genau hier ist der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen: Sie will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, dass das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann.“ DEUS CARITAS EST, Enzyklika Benedikt des XVI. Vom 25.12.2005, zitiert nach der Sammlund der Verlautbarung des Apostolischen Stuhls der Deutschen Bischofskonferenz, Nr. 171, S. 38. [/quote]

Der Korrelationsgedanke und die Vorstellung von der gegenseitigen Reinigung haben die Papstwahl unbeschadet überstanden. Allerdings endet die einschlägige Passage auch mit dem Verweiß darauf, dass das was der Glaube an Reinigungsmittel beizutragen hat, immernoch ein in sich rechtes sei – auch die Notwendigkeit auf eine Art natürlichen Rechts, welches bereits existiert und nur umfassend erkannt werden müße, erfährt weiterhin päpstliche Adelung. So heißt es dann auch weiter:

[quote] Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist. Und sie weiß, dass es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen: Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht. [/quote]

Was in den nächsten zwei Paragraphen folgt – wobei der zweite wohl zur besonderen Betonung der Tragweite den ersten paraphrasiert – hat starke habermasianische Anklänge.

[quote] „Das bedeutet aber: Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss. Da es sich um eine politische Aufgabe handelt, kann dies nicht der unmittelbare Auftrag der Kirche sein. Da es aber zugleich eine grundlegende menschliche Aufgabe ist, hat die Kirche die Pflicht, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden. [Absatz] Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muss auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muss die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann. Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an“. Ebd., S. 38f. [/quote]

Zwar sei Kirche kein direkter Akteur beim Erbauen einer wie auch immer zu realisierenden gerechten Gesellschaft; das bleibt dem Bereich der Politik, des Staates und der säkularen Vernunft überlassen. Allerdings kann Kirche hier indirekt wirken, indem sie sich im Gespräch mit der säkulaen Ratio zu Wort meldet. Der entscheidende Satz ist:

[quote] Da es aber zugleich eine grundlegende menschliche Aufgabe ist, hat die Kirche die Pflicht, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden. (Ebd.)[/quote]

Unter dem Begriff der Bildung klingt hier auch schon an, dass die indirekte Beteiligung an der Gesellschaftsbildung vor allem über die im katholischen Sinn geprägten Laien, um diejenigen Menschenmassen, die auf die Kirche blicken mit dem Wunsch nach moralischer Führung, und die dann ihrerseits als Multiplikatoren für deren Vorstellungen in der Diskussion um säkulare Entscheidungen dienen sollen. Damit bewegt sich Ratzinger sehr nah an der habermasschen Aufforderung die religiösen Quellen von Gesellschaftsgestaltung und Solidarität sprudeln zu lassen. Noch konkreter wird diese Berufung der Laien zum Aufbau einer guten Gesellschaft im Abschnitt 22, zwei Seiten weiter, eine Stelle, die zentral werden wird für die weitere Argumentation dieser Arbeit:

[quote] Die unmittelbare Aufgabe, für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu wirken, kommt dagegen eigens den gläubigen Laien zu. Als Staatsbürger sind sie berufen, persönlich am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie können daher nicht darauf verzichten, sich einzuschalten ,,in die vielfältigen und verschiedenen Initiativen auf wirtschaftlicher, sozialer, gesetzgebender, verwaltungsmäßiger und kultureller Ebene, die der organischen und institutionellen Förderung des Gemeinwohls dienen“. Aufgabe der gläubigen Laien ist es also, das gesellschaftliche Leben in rechter Weise zu gestalten, indem sie dessen legitime Eigenständigkeit respektieren und mit den anderen Bürgern gemäß ihren jeweiligen Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten. (Ebd., S. 39.) [/quote]

Sicherlich ist diese Betonung der Laien zum Dienst an der Gesellschaft nicht neu; die Pastoralkonstitution GAUDIUM ET SPES sieht eine solche bereits vor, allerdings bezieht sich der Papst hier nicht explizit darauf. Auf jeden Fall können diese Passagen inhaltlich wie formal als direkte Antwort, als Annahme, der Habermasschen Ausführungen in Bayern im Jahr davor fungieren. Nimmt man die Rekurse auf das Naturrecht aus, so scheint jedenfalls von katholischer Seite Einmütigkeit darüber zu bestehen, wie Katholiken als Gesellschaftsstützen agieren können: motiviert vom Christlichen Auftrag, der katholischen Soziallehre und mit anderen katholischen Inhalten gewappnet, als Teilnehmer am Aufbau einer gerechteren, solidarischen Gesellschaft.

Kritik

Im folgenden Kapitel möchte ich die ursprüngliche Debatte noch einmal auf den Prüfstein stellen, mit Blick auf die angebliche Übereinstimmung der Gesprächspartner. Danach folgen zwei Kommentare über das mit dem Eingehen auf das jeweilige Gegenüber verbundene strategische Vorhaben bei Ratzinger und Habermas. Zuletzt beleuchten wir noch einen überschatteten Aspekt beider Demokratieideale.

Wenn man zunächst bei den ursprünglichen zwei Vorträgen und dem Debattenabend bleibt, so fällt eine starke Inkongruenuz auf: Alle Beobachter des Abends zeigen sich erstaunt, ja erfreut über die inhaltlichen Übereinstimmungen der beiden eigentlich als Kontrahenden geladenen Sprecher; zum anderen sind deren Beiträge von sehr unterschiedlichem formalen und inhaltlichen Aufbau. Ein Zusammenhang, in dem letzteres Ersteres begründet, ist leicht gefunden. Habermas bringt zwei sehr konkrete Anliegen in die Diskussion ein: quasi als Vertreter eine rational-säkularen Gesellschaftsordnung bittet er bei den Quellwächtern religiös motivierter Moral um Amtshilfe beim Zusammenhalten der modernen Gesellschaft mit aktiver Solidarität. Gleichzeitig benennt er aber als Vorbedingung einen innerreligiösen Reformprozeß, der westliche Grundwerte in deren sanctum sanctorum aufgenommen sähe. Ratzinger hingegen lässt sich zunächst weniger klar einordnen – schon weil Auftakt sowie letztes Drittel seines Vortrages, explizit und implizit vor allem gegen Hand Küng und sein Projekt Weltethos gerichtet zu sein scheint. Der Rest wird durch ein teils vorsichtiges, teils müde wirkendes, Verbergen der eigenen Position hinter unbeantwortet in den Raum gestellten, rethorischen Fragen schwerer interpretierbar. Es bleibt ein langer Rekurs auf das Naturrecht, dessen Validität teils eingeschränkt, und dann dieses wieder revidiert wird. Nicht zu unrecht wieß Professor Baptist Metz auf den unterschiedlichen Wahrheitsbegriff der beiden Gesprächspartner hin; und auf das besinnt sich auch Habermas in seinen nächsten Vorträgen wieder mehr, wie oben zu sehen war. Wenn sich auch die Zweige überschneiden, so trinken die Wurzeln aus unterschiedlichen Schichten. Es geht dabei ein wenig unter, dass Ratzinger darüber hinaus auch noch die zwei Domänen seines Gegenübers durchaus diskreditiert. Dies geschieht durch die inhaltliche Verkürzung des Demokratie- und des Wissenschaftsbegriffs. Letzteren reduziert er auf einen amoralischen Scientismus, den man genauso gut dem Kapitalismus wie der Moderne zur Last legen könnte. Auch die Demokratie wird verkürzt zur Diktatur der Mehrheit und lapidar zu den Akten gelegt. Dabei bleibt, wie auch bei Wissenschaft, Naturrecht, Menschenrechten und terrorgebährender Religiösität, unklar, inwieweit für Ratzinger der einzelne negative Aspekt die ganze Sache disqualifiziert. Die Vermutung drängt sich auf, dass diese Art der Verpackung den Teilnehmer zuviel Offenheit und Übereinstimmung suggeriert, das Trennende relativiert, und die Querschüsse hat überhören lassen.

Vor den einzelnen Beiträgen, möchte ich mich noch dem Kritikbegriff selber zuwenden. Dieser hätte zumindest im Anschluss an die Debatte von Habermas und Ratzinger noch einmal klärend umrissen werden müssen, um eine bessere Einschätzung zu ermöglichen, wie sie sich das konkrete Engagement der Christen vorstellen. Die Sollbruchstelle ist hierbei die In- oder Exklusion der Institutionenkritik. Sie kommt zwar später in DEUS CARITAS EST vor, in der der Papst die Kirche explizit von einer direkten Mitverantwortung an der Errichtung gerechter Verhältnisse ausnimmt. Allerdings wird diese Last dann doch wieder an die Laien weitergegeben, die wohl für sich interpretieren sollen, wie sie ihren christlichen Auftrag auslegen. Damit ist er, auch eben in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, noch wenigstens in soweit durchaus reformmutig, dass er überhaupt als Ziel die gerechte Gesellschaft an sich postuliert – und damit auch die Frage nach der Gesellschaftsform über die Fixierung auf die real existierenden Demokratien hinaus zumindest anspricht. Habermas hingegen schließt zu Beginn Institutionenkritik zunächst aus, wenn er von der ausreichenden Legitimation existierender Demokratischer Strukturen aus sich selbst heraus spricht. Dem folgend muss man Habermas vorwerfen, dass er die Rolle von Kritik, auch von Insitutionenkritik, bei wie auch immer gearteten und von ihm jedoch ausdrücklich gewünschten Veränderungen zum Besseren unterschätzt. Letztlich bleibt aber bei beiden unklar, wie sie sich die ideale Mischung aus zahmen Lamm und feurigen Paulus im politischen Christen vorstellen; und Kritik als demokratische Tugend bleibt tendenziell unterbewertet.

Blickt man nun auf die weitere Tragweite der Diskussion, und die Konsequenzen der Standpunkte, die die beiden Gesprächspartner vorgestellt haben, so fällt auf, dass beide jeweils eine entscheidende strukturelle Schwäche in ihrer Argumentation aufweisen, die sich gegenseitig komplementieren. Liest man zum Beispiel den Beitrag von Habermas nicht nur als Bestätigung des status quo, mit den geläufigen kirchlichen und von Laien vorgetragenen Einwürfen zu einzelnen moralischen Fragen, sondern nimmt die Aufforderung ernst, die stark in seiner Sprache mitschwingt, auch die Strukturen des Gemeinwesens selbst mit zu diskutieren und zu gestalten, dann drängt sich die Frage auf, ob dafür tatsächlich genug Potential im religiösen Umfeld zu finden ist. Wenn Beteiligung nicht nur Affirmation bedeutet, sondern auch kritische Erneuerung, dann scheint Habermas die Fähigkeit der als Kirche organisierten Menschen zu überschätzen. Er baut auf ein System, dass es selbst an Selbstreinigungskraft, Beteiligungskultur und Strukturreformwillen missen lässt. Kurz gesagt, Habermas versucht mögliche strukturelle Krisenmomente westlicher Demokratien mit einer Anleihe an vordemokratische Strukturen kompensieren. Auch wenn die Wiese auf dem unbekannten Ufer des trennenden Flusses zunächst immer grüner als die eigene zu sein scheint, ist ein Ausflug dorthin langfristig zum Scheitern verurteilt. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, hat auch Habermas selbst dies scheinbar relativ zügig eingesehen.

Ratzinger hingegen hatte sich, wie gesehen, zunächst bedeckt gehalten, bzw. alte Differenzen abgeschwächt re-iteriert; hat sich aber später Habermassche Vorschläge und Rethorik zum Teil zu eigen gemacht. Kirchenpolitisch geschickt, behält er den katholischen Anspruch auf die Gesinnungshoheit über das einzelne Individuum bei, während er gleichzeitig dessen, in Vatikanum II und vorher festgeschriebenen, Sendung zum politische Tun stärkt, einen wie auch immer gearteten konkreten Reformprozess zu einer gerechteren Gesellschaft aber der existierenden Staatlichkeit überlässt. Dieses Konstrukt produziert allerdings eine Inkonsistenz, die sich zu dem benannten Überanspruch bei Habermas spiegelbildlich verhält. Ratzinger scheint sich nicht im Klaren zu sein, oder nimmt billigend in Kauf, dass sein Bild vom katholischen Laien dessen Gewissen in die religiös-säkulare Schizophrenie treibt. Ein in der demokratischen Welt stehender Mensch, an die Mindeststandards des ihn formenden politischen Systems gewöhnt, kann nicht umhin kommen, eben diese auch auf das ihn bindende religiös orientierte Autoritätsgewölbe anzuwenden. Egal wo der Identitätsschwerpunkt von demokratischen Christen im Alltag liegt, müssen sie sich zwangsläufig in beide Richtungen wenden, um die Unzulänglichkeiten in beiden Gesellschaftlichkeiten anzusprechen. Das zieht logischerweise den Einzug von demokratischen Strukturen in die Kirche nach sich – getragen von demokratisch gebildeten Laien und Klerikern. Eine Transport von katholischen Wahrheiten in gesellschaftliche Diskussionen kann nur im Einklang mit der reziproken Übertragung von säkularen Wahrheiten, zum Beispiel vom nicht-hirarchischen Zustandekommen sozialer Konsensi, in die andere Richtung zustande kommen. Diese logische Notwendigkeit wird, meines Erachtens, in DEUS CARITAS EST stark unterschätzt, auch wenn der Hinweis auf die unerlässliche Einarbeitung säkularer Standards in den christlich-dogmatischen Kern von Habermas ausdrücklich eingefordert wurde.

Solange eine solche Inkorporation und gegenseitige Befruchtung sich nicht konkretisiert, ist auch die Übernahme von Habermasschen Gedanken in päpstlichen Enzykliken kein echtes Zeichen der Annäherung. Ebenso machen auch die beiderseitigen Aufrufe zum christlichen Wirken in die Welt wenig Sinn. Vor dem Hintergrund des unbestellten Hauses der Kirche im Sinne der Habermasschen Mindestanforderung, kann sich für ihn in der Kirche auch keine neue Quelle für ein soziales politisches Gemeinwesen auftun; ebenso wenig kann sich für sie selbst der wiederholte und brennende Wunsch nach einer christlichen Re-Evangelisierung des säkular-demonkratischen Europas erfüllen3.

1 Alle Ausführungen dieses Teils der Arbeit beziehen sich auf die beiden Vorträge in Habermas, J. u. Ratzinger, J. „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“. In: „Zur Debatte – Themen der Katholischen Akademie in Bayern“, Florian Schuller [Hrsg.]. Jg. 34, Bd 1. – 2004 (keine Seitenangaben vorhanden). Alle Zitate, soweit nicht ander gekennzeichnet, finden sich dort verbatim.

2 Als Antwort auf eine Frage von Prof. Spaemann. FAZ vom 21.1.2004, „Strukturwandel der Heiligkeit. Dogma gegen Diskurs“

3 Vgl. dazu: Die Deutschen Bischöfe. „Zeit der Aussaat – Missionarisch Kirche sein“. Die Deutschen Bischöfe, Bd. 68, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn (2000).

 

 

 

Literatur

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