Honig ist Honig (zum 9. November 1989)

Eigentlich wollte ich Sowjetsoldat werden. Die hatten diese tollen grünen Mützen mit dem winzigen roten Stern drauf. Diese kleinen Sternchen leuchteten unter der friedlich freundschaftlichen Sonne verbrüderter Staaten, sie leuchteten gen Westen, wo es keine Staaten gab, stattdessen nur diese klumpige geballte zäh wabernde angeblich extrem kinderfeindliche Masse.

Eigentlich wollte ich Sowjetsoldat werden. Die hatten diese tollen grünen Mützen mit dem winzigen roten Stern drauf. Diese kleinen Sternchen leuchteten unter der friedlich freundschaftlichen Sonne verbrüderter Staaten, sie leuchteten gen Westen, wo es keine Staaten gab, stattdessen nur diese klumpige geballte zäh wabernde angeblich extrem kinderfeindliche Masse. Wie Kaugummi, der alles verklebt. Mich verklebte er nicht, ich fragte mich nur, woher kam all dieses bunte Spielzeug, wenn die da drüben so kinderfeindlich sind? Ich verdrängte solche Gedanken mithilfe der roten Sternchen, so gut es ging. Sternchen sind ja tolle Dinger, da kann man nichts gegen einwenden, eine geniale optische Erfindung — die Macht des roten Sterns begriff ich jedoch nie: Da ging es um Kritik und Kampf gegen Kapital, und ich ließ mir erklären, dass mit Kapital im großen und Ganzen Geld gemeint ist, – ich dachte nur: Mhhhmm, Geld. Was kann man denn gegen Geld haben? Man konnte von Geld prima Eis kaufen. Und Mutti, wieso leuchtet das Brandenburger Tor bei Nacht nur aus der Ferne? Mutti, ich verstehe das nicht. Mütterchen fasst mir daraufhin auf die Schultern und spricht mir ins Haar: Mein Kind, ich versteh es auch nicht. Und außerdem: "Du kannst gar kein russischer Soldat werden, weil du kein Russe bist." Ich realisierte: Ich war eben doch nur ein einfaches Ostkind. Und was die Russen in unserer DDR zu suchen hatten, wenn sie mir nicht erlaubten ihnen beizutreten war mir von nun an scheißegal. Wir verbrannten ein paar Jahre später unsere Jungpionierausweise und fanden das komisch. Wir spürten es geht zu Ende. Wir wollten keine Pioniernachmittage mehr. Wir wollten raus aus den Zwängen, wir wollten weg, irgendwohin, wir wollten im Dreck spielen dürfen, wir wollten keine komplizierten Knoten mehr in unsere Halstücher flechten, nie wieder Bügelfalten! – wir wollten raus auf die freien goldenen Felder, wir wollten geile Mountainbikes und Schweizertaschenmesser. Also verbündeten sich alle zehn und elfjährigen Ostdeutschlands und löcherten ihre Erwachsenen mit Fragen. Jeden Tag eine Frage mehr. Sie wurden wahnsinnig davon und bald hielten sie es nicht mehr aus: sie flüchteten auf die Straße. Wochenlang frierten die Erwachsenen, weil sie wussten: Wir können nicht ohne buntes Spielzeug nach Hause kommen. Und sie waren hartnäckig und es sollte sich auszahlen. Es rückte ein großes Ziel in greifbare Nähe. Schließlich sitze ich vor dem Schwarzweißfernseher und höre den Nachrichtensprecher etwas sagen. Er sagt Wichtiges, sagt Schicksalsträchtiges, Triumphales, er kann sich nicht mal das Lächeln verkneifen, er sagt etwas, das uns alle betrifft. Ich bekomme Hunger und esse Honigbrote. Meine Eltern kommen aufgelöst nach Hause und reden mir den Hunger aus, denn die Grenzen sind offen. Mann, verstehst du nicht? Die Grenzen!! AUF!! Naja, schön und gut: Und wo ist jetzt das Spielzeug? Meine Eltern verdufteten ziemlich sofort wieder. Ab in die Kälte verschwanden sie und ich blieb zu Haus und sah mir im Fernseher die Menschenmassen an. Mann, sind das viele!, dachte ich. Die sind jetzt alle geile Sachen für ihre Kinder holen. Ich spürte: Wir werden ab jetzt immer alles bekommen, was wir wollen. Wir müssen nur laut genug unsere Eltern für uns schreien lassen.